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HELENA WALDMANN

PRESSESTIMMEN

UNDER COVER
Das Wort für Zelt und für das sackartige Gewand der Frauen ist in Iran das gleiche: Tschador. Deshalb hat die Choreografin Helena Waldmann ihr neues Tanzstück Letters from Tehran aus wandelnden Zelten komponiert. Fünf iranische Frauen verleihen bunten Igluzelten ein Innenleben, von dem man beim Tanztheater International in Hannover nur die äußere Hülle sah. Bizarr und ein wenig unheimlich wirbeln sie durch den Raum, fallen von der Bühne, stürzen sich aufeinander oder stehen still nebeneinander. In einer Szene zerren alle Zelte gemeinsam an einem einzigen blauen, an Mrs. Blue, bis die äußerste Schicht sich löst. Doch darunter kommt eine neue Membran zum Vorschein. Ohne diese vielschichtige Umhüllung scheint Äußerung nicht möglich. Waldmanns Stück kommentiert die politische Wirklichkeit in Iran, wo offiziell kein Tanz, sondern lediglich „rhythmische Bewegung“ erlaubt ist. Auf Einladung des Dramatic Arts Center Teheran hatte die Choreografin vor kurzem einen zweimonatigen Workshop geleitet, mit der Zelt-Metapher findet sie nun einen eingängigen Weg, ihre Iraneindrücke zu schildern. Die Ambivalenz des Tschadors, der Schutz und Gefängnis ist, der es erlaubt, zu sehen, ohne gesehen zu werden, steht im Zentrum der Performance. Sie beginnt mit einer abschottenden Geste, dem Zuziehen eines Reißverschlusses, am Ende aber laden die Frauen zum Eintritt ins Zelt ein. Wie nahe man ihnen kommen darf, wird erst die nächste Vorstellung des als Serie angelegten Projektes am 6. und 7. November im Haus der Kunst in München zeigen.
Nina May, DIE ZEIT Nr 38, 9. September 2004

TANZENDE ZELTE AUS TEHERAN
Tanzen ist im Iran verboten. Unter dem Titel "Rhythmische Bewegung" darf man es doch betreiben. Die Frankfurter Choreographin Helena Waldmann flog für einen Workshop rüber und wollte gleich wieder zurück. "Die Frauen in der Öffentlichkeit sehen aus wie Zelte", erzählt sie nach der Voraufführung des ersten Teils ihrer "Letters of Teheran" in Hannover.
Unter den Verhüllungen, im intimen Kreis der sechs Tänzerinnen hat sie dann aber die Warmherzigkeit und Fröhlichkeit entdeckt, die man dem Orient sonst nachsagt. Das soll erst im zweiten Teil Thema werden. Wir sehen: Zelte. Hören bloß leises Wimmern, Singen, Kratzen, Schläge. Plötzlich wandert ein Zelt dazu, drängt sich dazwischen, treibt alle auseinander.
In den Zelten agieren die Tänzerinnen. Lassen die bespannten weichen Faltgestelle Kopf stehen, sich überschlagen, toben. Mal schmiegen sich auch zwei Zelte aneinander, aber es überwiegt aggressives Verhalten: Ein Zelt wird zerrissen, darunter steckt ein neues.
Dass Zelte einander verschlingen können, man hätte es nicht gedacht. Eines wagt sich zu nahe an den Abgrund und stürzt in den Orchestergraben. Die anderen neigen sich hinab und werfen der aus der Gesellschaft Gefallenen Almosen aus den Schlitzen, so wie es gottgefällig ist im Islam.
Für die Szenenwechsel senkt sich eine Leinwand, auf der Filmszenen aus Teheran gezeigt werden. Auch dort wimmelt es von Zelten, wirklichen Wohnzelten, in denen teils ganze Familien leben. Als sich die Leinwand das letzte Mal hebt, ist nur noch ein Zelt über. Darin wird eine Tänzerin nach der anderen sichtbar. Jetzt dürfen wir schon ins Zelt schauen, nun könnte das Stück über das Innenleben der Frauen beginnen.
Im Februar soll es in Teheran herauskommen. Wir wollen diese wunderbar begonnene Produktion beim nächsten Festival unbedingt komplett sehen. Starker Applaus.
Braunschweiger Zeitung Dienstag, 07.09.2004

WILD HÜPFENDE ZELTE AUS TEHERAN
Hannover. Zelte, die über die Bühne hüpfen. Die Berliner Choreografin Helena Waldmann, bekannt für
eigenwillige Tanzformen, zeigte beim Festival TanzTheater International einen Versuch ihrer neuen Produktion
"Letters From Tehran".
In der iranischen Hauptstadt hat Waldmann auf Einladung des Dramatic Arts Centers einen Workshop
mit einheimischen Performerinnen abgehalten. Nun also die erste Arbeitsbilanz auf dem Weg zur Uraufführung im Januar 2005.
Rund eine halbe Stunde lang sah man tanzende, von je einer Akteurin im Inneren bewegte Zelte.
Zunächst noch brav in der Reihe stehend, begannen sie alsbald einander zu bedrängen. Dann flippte eines völlig
aus und tobte in wilden Purzelbäumen herum. Die eigenartigsten Bilder entstanden: Zelte, die sich gegenseitg
verschlangen oder besprangen, oder ein Zelt, das die Außenhaut abstreifte - nur um darunter ein kleineres
Exemplar derselben Spezies zu enthüllen. Ein anderes kippte derweil mal eben über den Bühnenrand weg.
Vorweg und dazwischen Videos, etwa von Männeren beim Einreißen von Mauern. Gesamtwirkung bis
zum (vorläufigen) Schlussbild, als die Frauen die Türen öffneten und zum Eintritt ins Zelt aufforderten:
eindringlich, jedoch ziemlich heftig, zumal die herumspringenden luftigen Behausungen etwas seltsam
Menschliches hatten.
Diesen Eindruck bestätigte die Choreografin denn auch bei der anschließenden Diskussion: Die
verschleierten Frauen auf den iranischen Strassen hätten sie sofort an eben diese wandelnden Zelte erinnert, über
dies seien echte Zelte dort weit verbreitet: Waldmanns Einstellung zum Land hat sich im Laufe der Zeit
gewandelt: "Zuerst kam mir alles sehr agressiv vor, erst später habe ich die positiven Seiten zu schätzen gelernt."
Diese innerlichen Aspekte sollen im zweiten Teil des Stücks zum Tragen kommen, den es noch zu erarbeiten gilt.
Auch die Performerinnen wussten Interessantes zu erzählen. Ernstes wie Heiters. Etwa, dass sie ihr Tun,
da Tanz im Iran verboten ist, "rhythmische Bewegungen" nennen würden. Und wenn etwas bei der Vorstellung
nicht klappt, "können wir sagen, die Zelte sind schuld", wie eine der Ladies meinte. "Das ist die iranischen Art der Entschuldigung."
Neue Presse, Dienstag 07.09.2004

DIE VERBORGENE IDENTITÄT
Mikroskopisch betrachtet sieht Zeltstoff aus wie ein Netz aus Gitterstäben. Im Iran bezeichnet das Wort Zelt auch den weiblichen Ganzkörperschleier – den Tschador. Die Freiheit zu singen oder zu tanzen findet nur im Verborgenen statt, hinter den Mauern im Privaten oder eben in Zelten, wie man sie überall in Teheran findet: entlang der Straßen, in Parks, an den Stränden... Mobile Unterschlüpfe vor allem für Frauen, denen es verboten ist, sich einfach so im Freien zu zeigen.
Mit einem Produktionsstipendium des Goethe-Instituts in der Tasche ist die in Berlin lebende Regisseurin Helena Waldmann in die Hauptstadt des Iran gereist, um dort, wo Tanzen im öffentlichen Raum „rhythmische Bewegung“ genannt wird, ein Stück mit professionellen Tänzerinnen und Schauspielerinnen zu erarbeiten. Nach fünf Wochen Proben in der Heimat bot DANCE dem Team zwei weitere Wochen für progressive Atelierarbeit und den kommunikativen Gedankenaustausch der Künstlerinnen mit interessierten Festivalbesuchern (Teheran-Lounge im i-camp am 31. Oktober). Die fertige Produktion soll, wenn die Zensurbehörde keine Einwände anmeldet, im Januar/Februar des nächsten Jahres beim Theaterfestival in Teheran als Projekt des Dramatic Arts Center uraufgeführt werden. Dabei gerieten schon die zwei Vorraufführungen im Theater im Haus der Kunst zur Sensation.
„Ich habe Ihnen einige Fundstücke von meiner Reise nach Teheran mitgebracht“ begrüßt Helena Waldmann ihr Publikum und zaubert eine Zeltstadt auf die Bühne, wie man sie noch nicht gesehen hat: Pulsierend vom Leben der sieben Frauen, die in den biegsamen Zelten wie in einer zweiten Haut stecken. Nichts, was sie nicht machen könnten, verpackt in diese zweite Hülle. Wippen, kreiseln, purzeln, sich gegenseitig verschlingen, zusammenfallen oder aufblühen wie Schmetterlinge – nur herauskommen, das tun sie nie. Ihr Fenster zur Außenwelt ist zum einen ein durchsichtiges Sichtquadrat und zum anderen ihre Stimme, die laut aus dem weichen Gefängnis dringt. Wer die Frauen näher kennen lernen möchte, der muss zu ihnen durch den Reißverschluss-Schlitz ins Innere kriechen; womit das von Videobildern (Anna Saup und Farshid Behzad), Schriftprojektionen und arabischer Klangkulisse (Komposition: Hamid Saeidi und Reza Mojhadas) unterstützte Zelttheater auch endet. Mit einem Teeempfang der Iranerinnen auf der zum Riesenzelt mutierten Bühne klingt die Performance aus - abgeschirmt von den Blicken der Männer, die hier nun einmal das Nachsehen haben: Gerade diese Facetten der Ausgrenzung machen den humorvoll-analytischen Theaterblick in eine fremde Kulturwelt möglich.
Vesna Mlakar, 9.11.2004 tanznetz.de

GEFANGEN IM ZELT
einhelliger Jubel im Haus der Kunst für "Briefe aus Zeltland", das Helena Waldmann in Teheran - trotz staatlichem Wachauge - höchst eindrucksvoll mit sechs Iranerinnen erarbeitet hat.. Hier nun die Frauen, jede in ihrem Reißverschluss-Zelt, wie sie im Weg- und Eingesperrtsein - trotz Tanzverbot und anderer Einschränkungen - dennoch kämpferisch und erfinderisch eine Freiheit finden. Zu wilden kriegerischen Musiken, übergossen von arabischen Schriftzeichen, tanzt hier ein halbes Dutzend dieser birnerförmigen Stoff-Iglus in Reihen, Kreisen und Purzelbäumen wie ein abstrakt-menschloses Ballett.
Durch die Gaze der hochgezogenen Zeltluke schauen traurig-ernste Frauengesichter, wenden sich einmal auch ans Publikum:"Wir können zwar nicht heraus zu Euch, aber wir können die Zelt-Farbe wechseln und haben dabei das Privileg, nicht erkannt zu werden." So hintersinnig 'positiv' zu formulieren lernt man eben im Zelt-Korsett.
Malve Gradingen, Münchner Merkur 8.11.2004

WIE MAN UNTER ZELTEN LEBT
Den stärksten Festival-Eindruck aber hinterließen die 'Letters from Tentland', die die Berliner Choreographin Helena Waldmann mit sechs iranischen Darstellerinnen inszenierte. Zelte sieht man in Teheran überall (nicht als Notunterkünfte, sondern als Freizeitbehausung), und das Wort für Zelt bezeichnet auch den Tschador, den Ganzkörperschleier der Frauen. So steckt Waldmann die Performerinnen in birnenförmige Faltzelte. Umwerfend mit welcher tänzerischen Leichtigkeit sie in dieser zweiten Hauet Identität zeigen, mit wieviel Humor sie von ihrem Alltag erzählen. Ein Mosaik aus islamischen Gedichten und Gesängen, Videobildern von der Straße, selbstbewussten Botschaften von den Frauen, die unter dem Tschador leben. Alles mit szenischem Witz: Die Zelte tanzen, schlagen Purzelbäume und kriechen ineinander. Am Ende werden die Frauen im Publikum zu Tee und Gespräch hinter den Bühnenvorhang eingeladen. Da spüren Männer plötzlich, was Ausgrenzung bedeutet. Mit diesem Grenzgang hat Kuratorin Cornelia Albrecht im spannenden Dance Festival ein Highlight gesetzt.
Gabriella Lorenz, Abendzeitung 8.11.2004

PLATZANGST IM SCHUTZRAUM
Eine deutsche Choreographin lässt iranische Verhältnisse tanzen: "Letters from Tentland" kreiseln teils turbulent um das Vermummungsgebot für Frauen im Iran.
Der Hijab, ob nun Schleier, Kopftuch oder Tschador, ist im islamischen Gottesstaat weiterhin heilige Pflicht. Dass die innere Freiheit der Frauen nun durch die - von männlichen Sittenwächtern strikt kontrollierte - Auflage gefördert wird, wie manche aus dem Tanztheater-Gastspiel bei den Festspielen Ludwigsburg ableiteten, darf füglich bezweifelt werden.

Bedrückend, bedrängend bleibt der einzwängende Spielraum, den die mullahmäßig aufgezwungenen Kleidungsstücke lassen und für den Tanzregisseurin Helena Waldmann eine äußerst einfache und bemerkenswerte Übersetzung findet: Sie steckt ihre sechs Protagonistinnen, allesamt junge Iranerinnen, in kleine Zelt-Iglus, die verblüffend der staatlich oktroyierten Ganzkörperverhüllung entsprechen.

In ihnen winden, wälzen, kobolzen, verhaken sie sich in nachvollziehbarer Platznot und in unbändigem Bewegungsdrang. Wildgewordene Wäschesäcke, derwischhaft taumelnd, kreiselnd. Verblüffend, was sich mit einem solchen Einfrauzelt anstellen lässt. Es steht Kopf, schlägt mit den Flügeln, kuschelt wie Barbapapa, und es verleibt sich weitere Zelte ein, bis es nahezu aus allen Nähten platzt. Mitunter geht es in seinem Inneren zu wie auf jedem Campingplatz, auf dem verzweifelt mit der instabilen Statik unwilliger Zeltplanen gekämpft wird.

Der Zelt-Theatergruppe gelingen beeindruckende Bilder. "Letters from Tentland" sind aus einem Workshop am Teheraner Dramatic Arts Center hervorgegangen. Die Choreographin begründet: "Im Iran ist Tanzen verboten, tanzende Zelte nicht." Das ist die ironische, weniger die iranische Sicht der Dinge. Der knapp einstündige Abend vermittelte so auch kaum den Eindruck, als walte die Frau friedlich im Freiraum oder erobere sich souverän "Besetztes Gebiet". Von wegen womens lib im Hijab. Im Gegenteil, es bleibt das unangenehme Gefühl von Platzangst im verordneten, geschlechtertrennenden "Schutzraum". Dass die Frauen wiederum nicht nur gut auf Männer zu sprechen sind, bekamen die in Ludwigsburg am Ende zu spüren: Zum Kennenlern-Tee komplimentierten die Iranerinnen nur hinter die Bühne, wer weiblichen Geschlechts war.
Wilhelm Triebold, Südwest Presse 21.6.2005

WENN ZELTE ZU SPRECHEN ANFANGEN
Mag sich Stuttgart im Vierteljahrhundert-Rhythmus Haupstadt des „Theaters der Welt“ dünken: in Ludwigsburg ist es auf Jahresbasis zu Gast – und verstärkt zu Festspielzeiten. Wie jetzt das Dramatic Arts Center Teheran mit der Produktion „Letters from Tentland“ in der Karlskaserne. Helena Waldmann, Regisseurin aus Berlin und Weltreisende in Sachen Theater, die in der Vergangenheit schon Pinguine, Langschweine und Cheshire Cats als Akteure entdeckt hat, ist jüngst im Iran fündig geworden und hat mit sechs Performerinnen als Animateurinnen von sechs elastischen Zelten ein Stück erarbeitet, das aktueller nicht sein könnte. Finden doch exakt in diesen Tagen im Iran die weltweit beachteten Präsidentschaftswahlen statt, bei denen es nicht zuletzt um den dort heftigst diskutierten Wandel des Bilds und der Rolle der Frau in der modernen Gesellschaft geht.
Und genau darum geht es auch in den „Letters from Tentland“ – um die Frauen, die sich in ihrem Tschador, dem Ganzkörperschleier, wie in Zelten eingesperrt fühlen und entsprechend agieren – mit ihren Botschaften, die sie aus ihren vergitterten Fenstern an die Welt richten. Persische Briefe aus einer anderen, allerdings ganz und gar nicht mehr märchenhaften, sondern sehr heutigen „Tausendundeiner Nacht“ – Alltags-Botschaften, nicht zuletzt an den Westen gerichtet, aus einem fernöstlichen Divan, der einem Gefängnis gleicht. In dem sie sich eingerichtet haben, in dem sie leben (müssen), und wie sie darin miteinander kommunizieren und versuchen sich davon zu emanzipieren.
Sie tun es, indem sie eine Zeltsprache entwickelt haben, in der es ganz schön turbulent zugehen kann, wenn sie gegen ihre Stoffbahnen aufbegehren, aus ihren Reißverschlüssen und Gittern einen schüchternen Blick wagen, sich wie einen Kassiber ihre Hände zustrecken, wenn sie gar in ein anderes Zelt schlüpfen, wobei es sogar zu Vergewaltigungen kommen kann.
Wenn Alwin Nikolais in den fünfziger bis siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in seinen „Sound and Vision Pieces“ seine Tänzer in elastische Kostüme steckte, die sie wie tänzerische Aliens aus einer anderen Welt erscheinen ließen, dann muten die „Letters from Tentland“ wie deren politische Fortsetzung an: ein mobiles Zeltlager der Frauenemanzipation in Zeiten der zu Ende gehenden Vorherrschaft der Mullahs!
Horst Koegler, koeglerjounal 19.6.2005

ENTHÜLLENDE VERHÜLLUNGEN
Ein Zelt kann ein Schutz sein, eine Behausung, sei es als Notunterkunft oder zu Freizeitzwecken. Der Berliner Choreografin Helena Waldmann und ihren sechs iranischen Darstellerinnen hat es als Möglichkeit gedient, in einem Land, wo Tanz im öffentlichen Raum nur in einer sehr reduzierten Form als 'rhythmische Bewegung' erlaubt ist und wo für Frauen außerhalb des privaten Umfeldes ein Verhüllungsgebot gilt, trotz der Zensur ein außergewönliches, so klug analysierendes wie sinnliches und humorvolles Tanz- und Theaterprojekt zu realisieren.
Zelte sind offenbar im iranischen Alltag überall präsent. Das veranschaulicht die Diashow zu Beginn der Vorstellung. Dann stehen sechs der kegelförmigen Behausungen aufgereiht an der Rampe, reglos, das Innere bleibt dem Blick des Betrachters verschlossen. Und zugleich scheinen die stummen Iglus ihr Gegenüber zu beobachten wie ein überdimensionales Auge. Schemenhaft sind die Frauen, die sich in den Zelten befinden, zu erkennen. Erst ertönen vereinzelte Klopfzeichen von drinnen, die zu einem rhythmischen Klangteppich anschwellen. Und es kommt Bewegung ins Geschehen.
Die Zelte wiegen sich hin und her, purzeln über die Bühne, drehen und wenden sich, kriechen ineinander, falten sich zusammen. Ohne ihre zweite Haut je zu verlassen,vollführen die Darstellerinnen so ihren ureigenen Tanz - subversiv, hintersinnig mit viel Witz und Charme. Im Verbund mit dem Videodesign aus arabischen Schriftzeichen und Stadtansichten, das die Szenerie in eine suggestive Bilderflut taucht, orientalischer Musik und Gedichten sowie insbesondere durch die selbstbewussten verbalen Statements der Frauen, erzählt die tanzende Zeltstadt vom Leben mit dem Tschador. Das persische Wort bezeichnet den Ganzkörperschleier, der strenggläubigen Muslimen als angemessene Kleidung für die Frau gilt, bedeutet zugleich aber auch Zelt.
Dass die Regisseurin Helena Waldmann und mit ihr der in der europäisch-christlichen Kultur aufgewachsene Zuschauer auch jede Menge Vorurteile über den Alltag einer vom Islam geprägten Gesellschaft wie dem Iran mitbringen, machen die Frauen aus Teheran, in ihrer Heimat alle bekannte Schauspielerinnen und Tänzerinnen, allerdings ebenso klar. "Sie denkt, dass alle Frauen hier unterdrückt sind, aber in ihrem Stück versteckt sie uns noch mehr", gibt die Akteurin im weißen Zelt über ihre Regisseurin kund. "Ihr seid priviligiert, draußen zu leben, aber unser Privileg ist es, nicht identifiziert werden zu können, wir sind beschützt vor euren Augen", sagt eine andere. Doppeldeutig begehren die Darstelleinnen so nicht nur gegen das Korsett der Unfreiheit auf, sondern legen auch westliche Überheblichkeit und Voreingenommenheit bloß.
Frauen im Iran haben erfinderische Mittel und Wege gefunden, sich im streng reglementierten Rahmen der Traditionen und Gesetze ihres Landes Freiräume zu schaffen; sie sind keineswegs nur der Willkür des Regimes und des Mannes ausgelieferte Opfer, wie es so oft den Anschein hat. Das kann der weibliche Teil des Publikums nach der Performance mit den Akteurinnen selbst diskutieren, die zu Tee und Gespräch hinter den Vorhang auf die Bühne laden. Die Männer müssen draußen bleiben und sind in dem Fall auch einmal die Ausgegrenzten.
Claudia Gass, Stuttgarter Zeitung 21.6.2005

VON DENEN, DIE MAN NICHT SIEHT
Wie inszeniert man ein Tanzstück in einem Land, in dem Tanzen als solches verboten ist? Helena Waldmann, Multimedia Zauberkünstlerin unter den deutschen Theaterleuten, machte Unmögliches möglich.
Die Choreografin Helena Waldmann ist vom politischen Aktionismus genauso weit entfernt wie vom reinen Tanz! Sie verwischt Genres und jongliert gekonnt mit Medien. Nun verkehrt sie die Theatersituation: Ihre sechs iranischen Darstellerinnen verpackt sie in Zelte und lässt sie lauthals Regieanweisungen in Frage stellen. Das verblüffende aber: In 'Letters from Tentland' wird so schön getanzt, dass man sich an den wie Blumen im Wind wogenden Zelten kaum satt sehen kann. So geschickt wie Puppenspielerinnen manipulieren die Insassen ihre Stoffbehausungen, klappen sie wie Muscheln auf und zu, formieren sie zu Schunkelreigen, stellen sie auf den Kopf, zerknautschen sie zum Schneckenhaus. Dazu gibt es arabische Musik und sparsam plazierte Videoprojektionen, ein Mosaik aus Gedichten und Gesängen, alles knapp, dafür szenisch einfallsreich arrangiert.
Aber natürlich holt uns dieser Pas de six immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Schließlich ist das Ballett der Zelte kein Selbstzweck, sondern will der iranischen Gesellschaft den Spiegel vorhalten, indem es das Verbergen doppeldeutig zum Thema macht. Es geht um die Rolle der Frauen, um ihre Enttäuschungen, ihre Hoffnungen. Und es geht um die Einmischung von uns 'Westländern'.
Andrea Kachelrieß, Stuttgarter Nachrichten 21.6.2005

TANZ: DAS IRANISCHE ZELT-THEATER TRIUMPHIERT AUF DER BIENNALE
Es war für die Berliner Regisseurin und Choreografin Helena Waldmann nicht einfach Letters from Tentland auf die Bühne zu bringen. Das Stück entstand in Zusammenarbeit mit dem Dramatic Arts Center in Teheran und die Herausforderung wurde erfolgreich gemeistert. Die italienische Erstaufführung in Venedig im Rahmen des dritten internationalen Festivals für zeitgenössischen Tanz und der Biennale von Venedig war ein Erfolg:
Die Inszenierung von emotionaler Dichte und visueller Schönheit hinterläßt einen starken Eindruck. Vom ersten Moment an faszinieren die gelungene Realisierung von Helena Waldmann und die Dramaturgie von Susanne Vincenz, wenn die ersten Bilder von Zelten und Zeltlager auftauchen, quer durch Iran. Sie sind Symbol der Einengung, zugleich jedoch des Schutzes. (...) Die Zelte sind also die absoluten Protagonisten, sie rebellieren und bewegen sich entschieden oder wütend, nur erahnen läßt sich der Atem, die Sehnsucht und die Angst in ihrem Inneren. Es ist eine hart erkämpfte Bestätigung weiblicher Existenz in Iran, die mit Mut gegen Verbote und Zensur in der muslimischen Welt und gleichzeitig gegen westliche Klischees angeht.
Venedig, 24. Juni 05

IN IRAN SEHNEN KÖRPER UND SEELE SICH NACH NEUER FREIHEIT´
Über die herausragende Performance Letters from Tentland von Helena Waldmann (Idee, Inszenierung, Choreografie) und Susanne Vincenz (Dramaturgie) zu sprechen, das hieße den visuellen Zauber und die starke emotionale Wirkung der deutsch-iranischen Koproduktion hervorheben. Aber vor allem müßte man die expliziten soziologischen und politischen Hinweise erforschen, insofern die Inszenierung - gespielt von sechs jungen iranischen Künstlerinnen - Symbol und Metapher des Mutes der neuen Frau in Iran ist.
Paola Bruna, Il Gazzettino, 25.06.2005

EROBERUNG DER FREIHEIT MIT SECHS TSCHADOR-ZELTEN
Letters from Tentland ist eine perfekte Arbeit für das dritte internationale Festival für zeitgenössischen Tanz auf der Biennale, denn Ismael Ivo stellt "Body Attack", den Körper, der die Welt angreift, ins Zentrum. Hier ist es der Körper der Frau in der islamischen Welt: Ein von Zelten verhüllter Körper, ein Körper, der versteckt werden muss. "Was unsichtbar ist, hat keine Rechte", sagt die Frau im goldenen Zelt. Die sechs Schauspielerinnen tanzen in den Zelten, rollen kopfüber, stürzen um, schälen die Zelthaut und enthüllen eine zweite darunter, in einer wunderschönen Szene werden sie von Wind geschüttelt und die Zelte kriechen ineinander. Die Frauen schlagen gegen den geschlossenen Vorhang, nur das Licht dringt nach Außen, sie schreien gegen diese Wand an.
Roberto Lamantea, La Nuova Venezia, 25.06.2005

DAS GANZE EINZELZELT IST EINE BÜHNE
Die Grundidee der deutschen Regisseurin und Choreographin Helena Waldmann ist deshalb so gut, weil sie die berühmte Kleidervorschrift zweifach übersetzt. Denn in der Landessprache Farsi heisst Zelt tatsächlich Tschador. Genau wie jene schier totale Bedeckung der Frauen.
Nie verführt der Abend dazu, dem Klischee des "wahren Gesichts" aufzusitzen und die Frauen "demaskieren" zu wollen. Frau bleibt immer im Zelt, und nur Besucherinnen ist es erlaubt, nach der Vorstellung hinter dem Vorhang Tee zu trinken.
Tages Anzeiger, Tobi Müller, 20.8.2005

SPIEL UND TOD - NICHT UMZUBRINGEN
Sechs iranische Darstellerinnen stecken in sieben engen Zelten wie in Tschadors mit Sehschlitz, wie in Zwangsjacken. Die einen protestieren und verlangen Befreiung, den anderen ist die Ganzkörpermaske Schutz. Der Widerspruch beginnt nomadisierend eine getanzte Erzählung vom Befreiungskampf des weissen Zeltes, der in der Überwältigung durch das schwarze endet.
Waldmann knüpft lauter unlösbare Knoten zu einem wunderschönen, von arabischen Schriftzeichen und rhythmischen Arabesken durchwirkten Vorhang. Je vitaler der Zelttanz wird, desto erschöpfender strampeln sich die Zeltträgerinnen ab - und krümmen sich endlich zum ornamentalen Gebet: "Nur du, Gott, kannst unseren Zustand ändern." So ist es. Wir stecken im Dilemma wie in einem der Zelte.
St. Galler Tagblatt, Günther Fässler, 22.8.2005

UNSICHTBARE KÖRPER
... In mehreren Bewegungsbildern wird das Agieren und Verhalten von sechs Frauen im Tentland vorgeführt. Spannend ist, wie souverän sie mit den Gegebenheiten umgehen und was sie ihren Ganzkörpermasken abgewinnen. Sie lassen das Verhüllen in Enthüllung umschlagen und lenken den Blick gezielt auf einzelne Körperteile. Oder sie ziehen sich in den Schutz ihrer Zelte zurück, verbergen sich und entziehen sich jeder Identifikation.
Zwischen westlichen Vorurteilen und östlicher Zensur gelang es Helena Waldmann, ihr Konzept zu verwirklichen und dem Selbstverständnis der hervorragenden iranischen Schauspielerinnen gerecht zu werden.
Der Landbote, Ursula Pellaton 20.8.2005

IN EINER ANDEREN HAUT
Das persische Wort für Zelt, "Tschador", ist auch jenes für das staatlich verordnete Frauengewand. Daran erinnern Momente im Stück, in denen die Zelte wie grosse verhüllte Köpfe mit Sehschlitzen aussehen. Aber ganz so einfach macht es einem
Helena Waldmann mit den Bildern und Symbolen doch nicht. Sie spielt vielmehr mit ihnen und dreht sie so lange, bis diese sich gegen einen wenden und die eigene Sichtweise entlarven. Man sieht das, was man sehen will oder kann, wenn man lediglich ahnt, was sich hinter dem Schleier des Fremden verbirgt. Subtile Szenen mischen sich dabei mit plakativ wirkenden, ungemein bildstarke mit sperrigen.
Am schönsten sind jene Augenblicke, in denen sich die Videoprojektionen von Anna Saup, Karin Smigla-Bobinski und Farshid Behzad mit dem plastischen Geschehen auf der Bühne und mit den Imaginationen der Zuschauenden verbinden. So tanzt einmal eine Lichtgestalt leicht und anmutig über die Zeltwände, als wäre es der Geist der Phantasie, die immer mit dabei ist, wenn etwas verdeckt wird. Dann wiederum werden die Zeltkörper mit bewegten Schriftzügen regelrecht überschrieben, bis alles durch den Raum rast. Dieses Bild könnte als Zeichen für die
Herrschaft der Schrift über die Physis stehen, aber auch das bleibt flüchtige Vermutung, Projektion. "Öffne den Vorhang", schreit eine Darstellerin der Regisseurin ins Off zu. "Nein", antwortet diese, weil sie sie schützen wolle. Sie könne sich selber schützen, ruft jene zurück. Die Szene stellt aus, wie vorsichtig und reflektiert Helena Waldmann sich an das Thema der fremden Kultur herangewagt hat, aber auch wie schwierig es ist, dabei weder dem Effekt des Exotischen zu verfallen noch die eigene Perspektive dem Anderen überzustülpen. Niemand will
denn auch mit ins enge Zelt, aus dessen Öffnung kurz sechs Gesichter blicken. Da geht der Reissverschluss wieder zu. Wir bleiben draussen und erkennen weiter nur Konturen, bis wir zum Epilog hinter den Vorhang gebeten werden - allerdings, für
einmal, nur die Frauen.
Neue Zürcher Zeitung, Christina Thurner 20./21.8.2005

"ICH HABE GEFRAGT: WIE SIND WIR DENN?"
Helena Waldmann über ihre Theaterarbeit in Iran, über Vorurteile, den Zugriff der Zensur - und wie man Zelte Geschichten erzählen lassen kann

Interview
Helena Waldmann geboren 1962, ist seit 1992 freischaffende Regisseurin und Choreografin. Sie arbeitete unter anderen mit Heiner Müller, George Tabori, Gerhard Bohner. Im vergangenen Jahr war sie die erste westliche Regisseurin, die in Iran inszenierte.

Frankfurter Rundschau: Eine deutsche Regisseurin, die in Iran arbeitet - das ist so ungewöhnlich, dass ich mich fragte: Mit welchem Vorwissen sind Sie dorthin gereist?

Helena Waldmann: Ich hatte keins. Gekommen ist das mit Iran so: Wir hatten vor, die MS Studnitz, ein großes Kulturschiff, das in Rostock liegt, in den Orient zu schicken, es wurden Konzepte gemacht, ich habe Inszenierungsideen entwickelt. Als dann das Theatertreffen war, im vergangenen Jahr, war der Leiter des Teheraner Dramatic Arts Centre in Berlin, und ich habe ihm erzählt, was ich auf diesem Schiff machen würde und ob er sich vorstellen könnte, dass es auch in den Iran kommt, in die Küstenstädte. Das Konzept scheint ihm gefallen zu haben. Daraufhin bin ich eingeladen worden, in Teheran einen Workshop zu geben. Ich habe mich gefragt: wie leben die Leute, wie ist das Theater, was ist die Kultur in diesem Land. Bücher habe ich auch gelesen, aber ich brauchte mehr Hilfe, so bin ich nach Teheran gereist. Es ist ein Land hinter Mauern, hinter Schleiern, da nützt es nicht viel, die Zeitung rauf und runter zu lesen.

Sie haben dann also den Workshop gemacht.

Wir stellten fest, dass wir gut zusammenarbeiten konnten und wollten das Ergebnis nicht auf sich beruhen lassen.

Wie kamen die Iranerinnen in Ihren Workshop? Mussten sie sich bewerben?

Der Leiter des Dramatic Arts Centre hat mir gesagt: Das sind die Besten. Ich dachte: Oh je (lacht). Das war natürlich eine persönliche Entscheidung von ihm, andere iranische Schauspielerinnen sind genauso gut. Nach den Parlamentswahlen wurde dieser Leiter abgesetzt, die neuen Chefs wussten von der ganzen Angelegenheit nichts.

Wie wurde Ihr Arbeitsstil von den iranischen Künstlerinnen aufgenommen?

Im Iran kennt man performative Ansätze nicht. Es gibt zwar zwei junge Regisseure, die anders arbeiten, aber die meisten Stücke basieren ganz stark auf Text, enthalten fast keine Bewegung, sind quasi körperlos. Man sitzt an einem Tisch und redet, redet, redet. Theater spielt eine große Rolle in diesem Land, es ist ein Sprachrohr, durch das man seine Meinung sagt, aber eher zwischen den Zeilen, wie wir das aus der DDR kennen.

Es gibt vermutlich auch eine Zensur, wie funktioniert sie?

Normalerweise ist es so: Wenn man ein Stück inszenieren will, reicht man den Text ein. Das ging bei Tentland nicht, es gab keinen Text. Für iranische Regisseure genügt es, dass sie zum Beispiel sagen: Ich nehme Shakespeare, Hamlet. Und wenn die Zensoren finden, dass Shakespeares Hamlet ein gutes Stück ist, dann wird es eben genommen. Wir haben das Stück in Deutschland fertig inszeniert; und so kamen die Zensoren auf dem Teheraner Festival erst einen Tag vor der Premiere. In meinem Fall waren zwei Zensoren da. Die haben sich das angeguckt und dann Sachen rausgenommen, zum Beispiel einen Tanz, der projiziert wird auf die Zelte - eigentlich nur ein Schattentanz, ganz zart, man sieht keine Haut und gar nichts. Das durften wir nur als Standbild projizieren; denn wenn keine Bewegung dabei ist, geht es. Und wir mussten die Solostimme einer Frau rausnehmen, weiblicher Solo-Gesang ist verboten. Einen Tag später wurde es heftiger, da kamen nochmal neun Zensoren. Die wichtigsten der wichtigen. Zwei Stunden vor der Premiere haben sie sich das ganze Stück vorspielen lassen, wir mussten viele Fragen beantworten - etwa, ob ich das in einem anderen Land auch so inszeniert hätte. Diese Internationalität war für sie sehr wichtig.

Etwas Besonders an Ihrem Stück ist, dass am Ende die Frauen im Publikum eingeladen werden, auf die Bühne zu kommen.

Ja, da konnten die Zensoren nicht wissen, was wir da machen, denn die Zensoren sind alle Männer. Sie wollten das also streichen. Zum Glück hat das meine Regieassistentin, die in Iran eine sehr berühmte Schauspielerin ist, verhindert, indem sie Heul- und Schreianfälle bekam - wirklich! Und erklärte, das könne sie mir auf keinen Fall sagen, dass das raus soll.

Wann hatten Sie die Idee mit den Zelten für "Letters from Tentland"?

Eigentlich schon, als ich das erste Mal in Teheran war. Mir ist aufgefallen, dass in Iran viele Zelte am Straßenrand stehen. Es gab gerade eine Kampagne gegen Mäuse, da saßen Menschen vor den Zelten und informierten darüber, wie man die Mäuse aus dem Haus bekommt. Für alle möglichen Situationen gibt es Zelte in der Stadt. Ich habe mich aber während des Workshops nicht getraut, dauernd Zelte zum Einsatz zu bringen und habe mich erst im letzten Moment dazu entschlossen - die Darstellerinnen hatten gedacht, ich habe einen Knall. Aber es hat funktioniert: Man hat einerseits die extreme Behinderung gespürt, denn man muss ja eine ganz neue Spielweise entwickeln, andererseits war es sehr lustig. Die Zelte sind purzelig wie Barbapapa. Wir haben Tränen gelacht, im doppelten Sinn, denn wir haben auch eine Todesszene gespielt, etwas sehr Ernstes, und es funktionierte.

Wie war die Mitwirkung der Darstellerinnen?

Mein Interesse war nicht, da hinzugehen und irgendwas zu unterrichten, ich wollte den Austausch. Die Frauen sollten "Briefe" schreiben, deswegen Letters from Tentland. Und der erste Brief, den sie geschrieben haben, ging an Gott. Darauf müsste man in Deutschland lange warten. Sie schrieben: "Please God, come back from holiday". Der Satz ist im Stück, denn er ist eine schöne Art, Verlassenheit und Angst auszudrücken. Die Frauen konnten sehr ehrlich sein, die Türen waren ja hinter uns zu. Und wir waren unter uns, haben viel improvisiert.


War das Vertrauen von Anfang an da?

Anfangs war die Konkurrenz zwischen den Schauspielerinnen groß, wie ja auch in Teheran eine unglaubliche Agressivität herrscht, etwa auf den Straßen: Da wird die kleinste Lücke genutzt, auch wenn man weiß, es bringt gar nichts. Könnte ja sein, dass man doch ein bisschen schneller ist. Aber im Lauf der Zeit ist die Gruppe zusammengewachsen. Ganz wichtig war da auch das Thema Vorurteile. Sie sagten zu mir: Du bist gar nicht so, wie ihr seid. Und ich habe gefragt: Wie sind wir denn? Da sagte mir eine Darstellerin: Harsch, superstreng, obergenau, überhaupt nicht lustig. Aber natürlich habe ich andersrum auch Vorurteile mitgebracht in das Land: Die Frauen sind unterdrückt, sie müssen sich der Kleiderordnung unterwerfen .... Und sie haben mir gesagt: Das Kopftuch ist nicht unser größtes Problem, da gibt es viel schlimmere. Man merkt, es ist nicht leicht, in diesem Land zu leben - gleichzeitig sind es unglaublich glückliche Frauen. Sie leben einfach in zwei Welten: im Innen und im Außen. Und in dem Moment, in dem sie das Außen verlassen, zeigen sie ihre große Lebensfreude - und machen, was sie wollen. Im Iran gibt es nichts, was es nicht gibt, man sieht es nur nicht.
Helena Waldmann über ihre Theaterarbeit in Iran, über Vorurteile, den Zugriff der Zensur - und wie man Zelte Geschichten erzählen lassen kann

Interview
Helena Waldmann geboren 1962, ist seit 1992 freischaffende Regisseurin und Choreografin. Sie arbeitete unter anderen mit Heiner Müller, George Tabori, Gerhard Bohner. Im vergangenen Jahr war sie die erste westliche Regisseurin, die in Iran inszenierte.

Die Deutschland-Tournee von "Letters from Tentland" beginnt am 18./19. Oktober in Berlin (Schaubühne). Am 21. und 22. Oktober gastiert das Stück in Düsseldorf, am 25. in Bielefeld.

Im Frankfurter Mousonturm ist es vom 28. bis 30. Oktober zu sehen, Karten-Tel. 069 / 40 58 95 20, www.mousonturm.de. Am 28. und 29. um 22 Uhr läuft dort zudem "Emotional Rescue", ein Film von Helena Waldmann. sy
Frankfurter Rundschau: Eine deutsche Regisseurin, die in Iran arbeitet - das ist so ungewöhnlich, dass ich mich fragte: Mit welchem Vorwissen sind Sie dorthin gereist?

Helena Waldmann: Ich hatte keins. Gekommen ist das mit Iran so: Wir hatten vor, die MS Studnitz, ein großes Kulturschiff, das in Rostock liegt, in den Orient zu schicken, es wurden Konzepte gemacht, ich habe Inszenierungsideen entwickelt. Als dann das Theatertreffen war, im vergangenen Jahr, war der Leiter des Teheraner Dramatic Arts Centre in Berlin, und ich habe ihm erzählt, was ich auf diesem Schiff machen würde und ob er sich vorstellen könnte, dass es auch in den Iran kommt, in die Küstenstädte. Das Konzept scheint ihm gefallen zu haben. Daraufhin bin ich eingeladen worden, in Teheran einen Workshop zu geben. Ich habe mich gefragt: wie leben die Leute, wie ist das Theater, was ist die Kultur in diesem Land. Bücher habe ich auch gelesen, aber ich brauchte mehr Hilfe, so bin ich nach Teheran gereist. Es ist ein Land hinter Mauern, hinter Schleiern, da nützt es nicht viel, die Zeitung rauf und runter zu lesen.

Sie haben dann also den Workshop gemacht.

Wir stellten fest, dass wir gut zusammenarbeiten konnten und wollten das Ergebnis nicht auf sich beruhen lassen.

Wie kamen die Iranerinnen in Ihren Workshop? Mussten sie sich bewerben?

Der Leiter des Dramatic Arts Centre hat mir gesagt: Das sind die Besten. Ich dachte: Oh je (lacht). Das war natürlich eine persönliche Entscheidung von ihm, andere iranische Schauspielerinnen sind genauso gut. Nach den Parlamentswahlen wurde dieser Leiter abgesetzt, die neuen Chefs wussten von der ganzen Angelegenheit nichts.

Wie wurde Ihr Arbeitsstil von den iranischen Künstlerinnen aufgenommen?

Im Iran kennt man performative Ansätze nicht. Es gibt zwar zwei junge Regisseure, die anders arbeiten, aber die meisten Stücke basieren ganz stark auf Text, enthalten fast keine Bewegung, sind quasi körperlos. Man sitzt an einem Tisch und redet, redet, redet. Theater spielt eine große Rolle in diesem Land, es ist ein Sprachrohr, durch das man seine Meinung sagt, aber eher zwischen den Zeilen, wie wir das aus der DDR kennen.

Es gibt vermutlich auch eine Zensur, wie funktioniert sie?

Normalerweise ist es so: Wenn man ein Stück inszenieren will, reicht man den Text ein. Das ging bei Tentland nicht, es gab keinen Text. Für iranische Regisseure genügt es, dass sie zum Beispiel sagen: Ich nehme Shakespeare, Hamlet. Und wenn die Zensoren finden, dass Shakespeares Hamlet ein gutes Stück ist, dann wird es eben genommen. Wir haben das Stück in Deutschland fertig inszeniert; und so kamen die Zensoren auf dem Teheraner Festival erst einen Tag vor der Premiere. In meinem Fall waren zwei Zensoren da. Die haben sich das angeguckt und dann Sachen rausgenommen, zum Beispiel einen Tanz, der projiziert wird auf die Zelte - eigentlich nur ein Schattentanz, ganz zart, man sieht keine Haut und gar nichts. Das durften wir nur als Standbild projizieren; denn wenn keine Bewegung dabei ist, geht es. Und wir mussten die Solostimme einer Frau rausnehmen, weiblicher Solo-Gesang ist verboten. Einen Tag später wurde es heftiger, da kamen nochmal neun Zensoren. Die wichtigsten der wichtigen. Zwei Stunden vor der Premiere haben sie sich das ganze Stück vorspielen lassen, wir mussten viele Fragen beantworten - etwa, ob ich das in einem anderen Land auch so inszeniert hätte. Diese Internationalität war für sie sehr wichtig.

Etwas Besonders an Ihrem Stück ist, dass am Ende die Frauen im Publikum eingeladen werden, auf die Bühne zu kommen.

Ja, da konnten die Zensoren nicht wissen, was wir da machen, denn die Zensoren sind alle Männer. Sie wollten das also streichen. Zum Glück hat das meine Regieassistentin, die in Iran eine sehr berühmte Schauspielerin ist, verhindert, indem sie Heul- und Schreianfälle bekam - wirklich! Und erklärte, das könne sie mir auf keinen Fall sagen, dass das raus soll.

Wann hatten Sie die Idee mit den Zelten für "Letters from Tentland"?

Eigentlich schon, als ich das erste Mal in Teheran war. Mir ist aufgefallen, dass in Iran viele Zelte am Straßenrand stehen. Es gab gerade eine Kampagne gegen Mäuse, da saßen Menschen vor den Zelten und informierten darüber, wie man die Mäuse aus dem Haus bekommt. Für alle möglichen Situationen gibt es Zelte in der Stadt. Ich habe mich aber während des Workshops nicht getraut, dauernd Zelte zum Einsatz zu bringen und habe mich erst im letzten Moment dazu entschlossen - die Darstellerinnen hatten gedacht, ich habe einen Knall. Aber es hat funktioniert: Man hat einerseits die extreme Behinderung gespürt, denn man muss ja eine ganz neue Spielweise entwickeln, andererseits war es sehr lustig. Die Zelte sind purzelig wie Barbapapa. Wir haben Tränen gelacht, im doppelten Sinn, denn wir haben auch eine Todesszene gespielt, etwas sehr Ernstes, und es funktionierte.

Wie war die Mitwirkung der Darstellerinnen?

Mein Interesse war nicht, da hinzugehen und irgendwas zu unterrichten, ich wollte den Austausch. Die Frauen sollten "Briefe" schreiben, deswegen Letters from Tentland. Und der erste Brief, den sie geschrieben haben, ging an Gott. Darauf müsste man in Deutschland lange warten. Sie schrieben: "Please God, come back from holiday". Der Satz ist im Stück, denn er ist eine schöne Art, Verlassenheit und Angst auszudrücken. Die Frauen konnten sehr ehrlich sein, die Türen waren ja hinter uns zu. Und wir waren unter uns, haben viel improvisiert.


War das Vertrauen von Anfang an da?

Anfangs war die Konkurrenz zwischen den Schauspielerinnen groß, wie ja auch in Teheran eine unglaubliche Agressivität herrscht, etwa auf den Straßen: Da wird die kleinste Lücke genutzt, auch wenn man weiß, es bringt gar nichts. Könnte ja sein, dass man doch ein bisschen schneller ist. Aber im Lauf der Zeit ist die Gruppe zusammengewachsen. Ganz wichtig war da auch das Thema Vorurteile. Sie sagten zu mir: Du bist gar nicht so, wie ihr seid. Und ich habe gefragt: Wie sind wir denn? Da sagte mir eine Darstellerin: Harsch, superstreng, obergenau, überhaupt nicht lustig. Aber natürlich habe ich andersrum auch Vorurteile mitgebracht in das Land: Die Frauen sind unterdrückt, sie müssen sich der Kleiderordnung unterwerfen .... Und sie haben mir gesagt: Das Kopftuch ist nicht unser größtes Problem, da gibt es viel schlimmere. Man merkt, es ist nicht leicht, in diesem Land zu leben - gleichzeitig sind es unglaublich glückliche Frauen. Sie leben einfach in zwei Welten: im Innen und im Außen. Und in dem Moment, in dem sie das Außen verlassen, zeigen sie ihre große Lebensfreude - und machen, was sie wollen. Im Iran gibt es nichts, was es nicht gibt, man sieht es nur nicht.
Frankfurter Rundschau, Sylvia Staude 12.10.2005

DAS WUNDER VON TSCHADORISTAN
Wenn die iranischen Zensoren unangemeldet im Theater erscheinen, ist auch eine freie Gastchoreografin aus Deutschland der Willkür diktatorischer Kunstkontrolle ausgeliefert. Helena Waldmanns neues Stück hatte bereits seine Teheraner Generalprobe in Anwesenheit der zwei üblichen Tugendwächter überstanden, da tauchten wenige Stunden vor der Premiere acht bärtige Herren auf, um ein weiteres Defilee der tanzenden Zelte zu fordern. Seit der islamischen Revolution 1979 ist Tanz in Iran eigentlich tabu. »Rhythmische Bewegung« lautetet der politisch korrekte Terminus für das, was auf der Bühne noch stattfinden darf – und wer Waldmanns abstraktes Bildertheater kennt, der begreift die schwierige Aufgabe der Zensoren. Sollten sie die schwankenden, kreiselnden, sich überkugelnden Zelte als Tanz verbieten oder als Bewegung akzeptieren? Diktatur beruht ja auch auf willkürlicher Auslegung vermeintlich strenger Regeln. Es muss für das Ensemble eine Situation gewesen sein wie in Kafkas Erzählung Vor dem Gesetz: Da verwehrt ein Türhüter einem Bittsteller den Einlass »in das Gesetz«. Der Bittsteller aber grübelt bis an sein Lebensende vergeblich über die richtige Formel, um Zutritt zu erlangen.

Helena Waldmann hat die erlösenden Worte im Januar 2005 gefunden. Als die acht Türhüter nach der Vorstellung stumm das Theater verlassen wollten, lief sie ihnen nach und überwand – aus Angst um ihre in monatelangen Proben, bei 40 Grad Hitze erarbeiteten und unter wechselnden Kulturbeamten durchgeboxten Letters from Tentland – die Schwelle der demutsvollen Zurückhaltung. Ob das Stück ihnen gefallen habe, fragte sie die Zensoren. Da brachten die vor Schreck keinen zusammenhängenden Urteilsspruch heraus. Vielleicht hatten sie vorab schon beschlossen, den Eröffnungsbeitrag des größten Theaterfestivals im Nahen Osten, des Fadjr 2005, milde zu beurteilen. Waldmann vermutet, dass die Auguren deshalb so zahlreich erschienen, um sich gegeneinander abzusichern – damit keiner den anderen nach Bewilligung des heiklen Spektakels ins Gefängnis bringen konnte.

Letters from Tentland ( »Briefe aus Zeltland«) war das erste von einer ausländischen Choreografin in Iran inszenierte Stück seit über dreißig Jahren: ein politisches Ereignis gegen alle Wahrscheinlichkeit. Denn im Persischen steht das Wort Tschador auch für Zelt, und man müsste sich blind stellen, um die Analogie zwischen den pyramidenförmigen Bühnengeschöpfen und den glaubensstrengen Iranerinnen in ihren dunklen Umhängen nicht zu bemerken. Wenn die Zelte mit offenem Visier auf das Publikum zukommen, wirken sie wie wandelnde Gefängnisse. Das Stück ist aber keine Agitprop-Choreografie, sondern eine Meditation über die Dialektik des Verbergens und Enthüllens. Am Anfang stehen die Zelte stumm hinter einem Eisernen Vorhang aus weitmaschigem Kettenhemdgewebe. Wie Wächter, die zugleich Gefangene sind, bilden sie eine geschlossene Reihe, die von einem einzelnen Zelt durchbrochen wird. »Könnt ihr mich sehen?«, ruft es dem Publikum zu. »Ich bin eine Projektion meiner Regisseurin!« Vielleicht haben die Zensoren Letters from Tentland auch deshalb durchgehen lassen, weil Waldmann ihre Islamismus-Kritik nicht zur Affirmation des eigenen Gesellschaftsmodells missbrauchte.
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Helena Waldmann, Jahrgang 1962, eine der wildesten und zugleich formstrengsten Choreografinnen der Gegenwart, hat auf Einladung des Dramatic Arts Center Teheran das gefährliche Terrain der Gesinnungsdiktatur betreten. Kurz vor ihrer Premiere waren im Süden Irans ein Bürgermeister und ein Festivalkurator inhaftiert worden, weil sie ein sittenwidriges armenisches Gastspiel verschuldet hatten. Die Frage, ob sie Angst um ihre persönliche Sicherheit gehabt habe, weist Waldmann lachend zurück. Die ständige Gefährdung, die in Ländern wie Iran angeblich herrscht, gehört zu jenen Medien-Klischees, die ihr, seit sie wieder zu Hause in Berlin ist, aus jeder Zeitung entgegenschreien, und ganz ungeeignet seien, das Leben in Iran zu beschreiben. »Der Tschador«, sagt sie, »ist das Oberklischee.« Die Allerweltsmetapher, die uns eine intensivere Beschäftigung mit dem Islam erspart. Der wohlfeile Beweis für die Überlegenheit des Westens. Nach dem Fadjr-Festival tourte Waldmann mit ihren sechs Tänzerinnen durch Westeuropa, nach Brasilien und Seoul. Wenn sie Ende Oktober in Deutschland gastiert und die Iranerinnen das weibliche Publikum nach der Aufführung zu einem gemeinsamen Tee hinter den Vorhang bitten, kann man erleben, wie Kunst Bewegung in die Kopftuchdebatte bringt.

Letters from Tentland könnten ein Klassiker der Tanzgeschichte werden wie Oskar Schlemmers Bauhaustänze. Die Choreografin, die ursprünglich Bühnenbildnerin werden wollte, hat ihr Handwerk unter anderem bei Heiner Müller und dem Tanzminimalisten Gerhard Bohner gelernt. »Extreme Räume« sind ihr Markenzeichen, und ihre Methode besteht darin, die Theaterelemente Körper, Stimme, Architektur, Musik, Video und Licht auseinander zu deklinieren und sie zu überraschenden, surrealen Szenarien zusammenzusetzen. Seit ihrem ersten internationalen Erfolg 1993 mit Krankheit Tod hat sie vor allem das Potenzial von Vorhängen, Trennwänden, Gazefenstern und Überblendungen erforscht. »Doch auf einmal komme ich in ein Land, wo die Schleier nicht erfunden werden müssen.«

Iran sei ein ein Land, »wo es zwar Millionen Regeln gibt, von denen aber keine einzige mehr befolgt wird«. Da lebten die jungen Leute via Satellit in der internationalen Popkultur, aber bei ihren Hochzeiten müssten Männer und Frauen getrennt feiern. Da gebe es in der U-Bahn separate Abteile, aber im Sammeltaxi hockten alle dicht beieinander. Eine ihrer Tänzerinnen sei mal aus dem Taxi geworfen worden, nachdem ein fremder Mann sie begrabscht hätte – als das Mädchen sich wehrte, log er dreist, er suche nur seinen Schirm! »Ich habe mich oft geärgert«, sagt Waldmann, »dass sogar meine Frauen mich schamlos belogen. Bis ich verstand, dass man in Iran lügen muss, weil man niemandem trauen kann.« Von solchen Überlebenslügen handelt auch ihr Stück, von den Gruppenzwängen, die der Mensch, egal welcher Nationalität, nur schwer überwindet. Es zeigt, dass wir Menschen aus unserer Haut genauso wenig herauskönnen wie die Zelte. Sie verbeugen, verbiegen, verstecken sich zwar auf sehr menschliche Weise, sie umschleichen, umarmen, verschlingen einander und bleiben doch Alien-hafte Bewohner von Waldmanns Tschadoristan. Ihr Verhalten konterkariert die Verhältnisse. Die Ausdrucksvielfalt der Körper steht in grotesken Kontrast zur Normierung der inneren Natur des Menschen. Waldmanns Kunst ist, diesen Kontrast humorvoll zu tanzen. Wenn die Zelte, vorm Hintergrund des Teheraner Stadtpanoramas, überstrahlt vom Licht des schneebedeckten Elbrus-Gebirges, in eine Art Breakdance-Ekstase verfallen, dann entlädt sich der ungestillte Freiheitsdrang der gesamten Menschheit in einem seltsam schönen Theatermoment.

Die Idee zum Stück, sagt Helena Waldmann, sei ihr bereits am ersten Tag im südlichen Teil Teherans gekommen, als sie sich zwischen lauter verhüllten Frauen fühlte »wie auf einem wandelnden Campingplatz«. Es dauerte dann noch Wochen, bis sie wagte, ihre Schauspielerinnen zu bitten, in ein Zelt zu schlüpfen. Körpersprache sei ja aus der iranischen Bühnenkunst nahezu verbannt. »Von zehn Stücken finden mindestens sechs an Tischen statt.« Das iranische Theater muss unter ästhetischen Gesichtspunkten ähnlich enttäuschend sein wie die iranischen Städte. »Man sieht überhaupt keinen Orient, alles wirkt hingeschustert.« Es sei einfach unschön, sehr im Gegensatz zu den Menschen. Für sie reimportiert Waldmann nun ein bisschen postmodern verfremdete altpersische Poesie. Zu Versen des Dichters Nizam tanzt das rote Zelt ein Solo, während die Lobpreisungen aus dem Jahr 1197 als Schriftornamente über die Leinwand flackern: »Der Vorstellung ist dein Palast entrückt … nur du, oh Gott, kannst unsern Zustand ständig wenden.«

Helena Waldmann hat sich die Rolle des Zustandsveränderers angemaßt, darum wird Letters from Tentland in Iran wohl doch nicht mehr gespielt werden. Die geplanten Aufführungen im vergangenen Frühjahr wurden zwar nicht offiziell abgesagt, fielen aber trotzdem aus. Beim Gastspiel in Seoul waren neulich sogar die Türhüter wieder da, drei streng verhüllte Damen von der iranischen Botschaft. Waldmann hofft insgeheim, die Schwelle noch einmal zu übertreten.

Gastspiele im Oktober: 18., 19. Schaubühne Berlin; 21., 22. Tanzhaus NRW; 25. Bielefeld; 28.–30. Mousonturm Frankfurt a. M. November: 8. Lörrach; 13., 14. Ludwigshafen. Hintergründe des Stücks beleuchtet der erste Band der Reihe TanzScripte: »Letters from Tentland«; hrsg. von Susanne Vincenz; erschienen im transcript Verlag, Bielefeld 2005; 122 S., 14,80 €
Die ZEIT, Evelyn Finger 13.10.2005

VERDECKTE ERMITTLUNGEN
Frauen dürfen im Iran nicht öffentlich tanzen. Wie die Choreografin Helena Waldmann mit dem Verbot spielt

Der Brief kam aus Teheran. Er erreichte Helena Waldmann in Salvador de Bahia, wo sie gerade an einem Stück arbeitete. Das Schreiben war eine Einladung: Die Regisseurin, die für ihre ungewöhnlichen Aufführungen im Grenzbereich von Tanz und Theater bekannt ist und einmal über die Idee einer Theaterkarawane zwischen Orient und Okzident fantasiert hatte, sollte einen Workshop in Teheran geben. Sie sagte zu. Da wusste sie noch nicht, was sie erwartet. Sie wusste nur: Im Iran ist den Frauen das Tanzen in der Öffentlichkeit verboten. Es gibt nicht einmal ein Wort dafür. Offiziell ist nur von "rhythmischer Bewegung" die Rede. "Das war natürlich ein Aspekt, der mich extrem gereizt hat", erklärt Waldmann lächelnd.

Bei dem Workshop blieb es nicht. Die Berlinerin ist die erste deutsche Choreografin, die ein Stück im Iran erarbeitet hat. "Letters from Tentland" heißt es und ist nicht nur ein Politikum, sondern vor allem ein exzeptionelles Theaterereignis. Die Karawane, von der Helena Waldmann träumte, ist wirklich losgezogen. Auf internationalen Festivals gefeiert, macht sie nun an zwei Abenden an der Berliner Schaubühne Halt. Es war ein weiter Weg.

Der europäische Blick auf den Orient ist meist vom Schleier und dem Geheimnis - oder erotischen Versprechen - gefesselt, das ihn umgibt. Doch Helena Waldmann weist auch den aufgeklärten Enthüllungsgestus zurück. Sie zeigt uns nicht die Welt hinterm Schleier. Stattdessen betätigt sie sich als raffinierte Verpackungskünstlerin - und als verdeckte Ermittlerin. Geprobt wurde hinter verschlossenen Türen - davor warteten die Zensoren. Waldmann ermutigte die Darstellerinnen, sich nicht vorschnell selbst zu zensieren und auszuprobieren, was möglich ist. Und war dann von deren Erfindungsgeist verblüfft. "Sie arbeiten permanent daran, die Grenzen des Möglichen zu erweitern", weiß Waldmann.

Im Stadtbild von Teheran waren der Regisseurin die kleinen Zelte aufgefallen, angeregt durch dieses objet trouvé bittet sie die Darstellerinnen, in Zelte zu schlüpfen. "Zunächst schlugen alle die Hände über dem Kopf zusammen", erzählt die Regisseurin. "Helena, das geht nicht!", protestierten die Akteurinnen. Doch sie insistierte und schuf eine Versuchsanordnung, die konsequent ausgereizt wird. Denn raus dürfen die Frauen nicht, bis zum Schluss lüften sie ihre Identität nicht. Eine Herausforderung: Die Darstellerinnen mussten nicht nur ausprobieren, wie man sich in den "mobilen Räumen", bewegen kann, sie mussten vor allem lernen, mit der Beengung kreativ umzugehen. "Wir mussten ein neues Theateralphabet lernen", sagt die Regisseurin. So entfaltet das Zelt-Experiment auf der Bühne seinen eigenen Reiz. Sechs Stoffgehäuse stehen zu Beginn aufgereiht an der Rampe wie eine kleine Festung - aus kleinen Gitterfenstern blicken dunkle Augenpaare.

Am Ende steht nur noch ein schwarzes Zelt da, das alle anderen verschluckt hat. Ein eigenartiger Tanz ist dem vorausgegangen, die luftigen Stoffhüllen schweben, schwanken und überschlagen sich, sie stehen Kopf, und immer mal tanzt eins aus der Reihe. Die Stimmen und Zeichen, die aus dem Innern dringen, lassen sich nicht gleich deuten. Es sind - wie der Titel sagt - "Briefe" aus einem rätselhaften Land, deren Botschaften man erst entschlüsseln muss. Man sieht sich mit einer Kultur konfrontiert, die für westliche Betrachter nicht unmittelbar lesbar ist. Mehr noch: Die Absenderinnen dieser Briefe bleiben bis zuletzt unsichtbar. So schafft Waldmann ein treffendes Bild für die Situation der Frauen unterm Mullah- Regime.

Die Konstruktion von Blicken ist zentral für Helena Waldmanns Inszenierungen. Insofern sind die "Letters from Tentland" für sie eine logische Fortsetzung ihrer bisherigen Arbeit. "Ich habe schon oft Darsteller eingesperrt, hinter Spiegeln und Plastikfolien verborgen oder zu zweidimensionalen Figuren zusammengedrückt. Dass ich die Frauen nun in Zelte gesteckt habe, ist nicht nur ein ästhetischer Trick, sondern ein Mittel, um etwas aufsprengen, um Dinge auszusprechen, die ich sonst nicht hätte sagen können."

Im Schutz der Anonymität lässt sich Klartext reden. "Die Zelte sind wie Briefumschläge, womit die Darstellerinnen sie füllen, blieb ihnen überlassen", erklärt die Regisseurin, die zur stellvertretenden Machtinstanz wird, zum Regime an Stelle des Regimes: Sie ändere ständig die Regeln, nach denen sie agieren müssen, sagen die Frauen. Und indem die Choreografin sie in Zelte verbanne (das Wort "Tschador" bezeichnet im Persischen sowohl das Zelt als auch den Schleier), verhülle sie sie gleichsam ein zweites Mal. Was sich in dieser verborgenen Welt abspielt, entzieht sich unserer Wahrnehmung. Aber wir erfahren, wie die Frauen sich mit List und Fantasie gegen das Unsichtbar-Sein wehren. Und dass sich ihre Tanzlust, ihre Ausdruckswut nicht bändigen lässt.

"Letters from Tentland" wurde zum Wendepunkt in Waldmanns künstlerischer Biografie. "Durch die Arbeit habe ich nicht nur einen tiefen Einblick in eine total fremde Kultur bekommen, ich habe auch neue künstlerische Perspektiven gewonnen", erklärt die Regisseurin.

Jedenfalls hat sie sich damit für schwierige Jobs im Parcours des internationalen Kulturaustauschs qualifiziert. Der führte sie im Mai 2005 nach Ramallah, wo sie im Auftrag des Goethe-Instituts mit der palästinensischen El-Fonoun Dance Troup einen Tanzdokumentarfilm drehte: "Emotional Rescue". Wieder war die Regisseurin ohne fertiges Konzept angereist. Den Darstellern sagte sie: "Ich möchte ein Stück mit euren Geschichten machen." Die kreisen alle um das Thema Besatzung und Unterdrückung, so dass die Regisseurin erneut eine Sprache dafür finden musste, eingesperrt zu sein. "Es sind Geschichten von Behinderung und Nicht-Bewegung, von totalem Stillstand und Hoffnungslosigkeit", sagt Waldmann.

Doch ihre Figuren tanzen. Es ist der Traum von Freiheit, der zum Movens wird, und so einfach wie wahr: Fantasie kann man nicht einsperren. In "Letters from Tentland" ist einmal ein tanzender Schatten zu erkennen, wie ein fernes Echo dringt ein betörender Gesang ans Ohr.

"Letters from Tentland": 18. und 19. Oktober, 20 Uhr in der Schaubühne.
DER TAGESSPIEGEL, Sandra Luzina 18.10.2005

ZELTE DER WOLLUST
Ob Waldmann ihre Darstellerinnen von ihrem Leben reden lässt, ob Videoprojektionen über die Bühne laufen oder immer wieder ein Vorhang zwischen Bühne und Publikum fällt: Waldmanns Bildertheater gelingt der Spagat zwischen Kritik und Verständnis, zwischen Deutschland und Iran mit seltener Ausdrucksstärke und Sicherheit.
Gesa Pölert, Rheinische Post 24.10.2005

AUFBRUCH AUS DEM ZELT
Es sind ausnahmslos starke Bilder, die die Choreographin Helena Waldmann in ihrem Stück mit einer überaus trickreichen und verstörenden Metapher erzeugt. Denn die iranischen Tänzerinnen stecken in birnenförmigen, verschiedenfarbigen Faltzelten; ein furioser Kunstgriff!
Eva Britsch, Neue Westfälische 27.10.2005

BEHIND THE TENT
As the lights go down at the sold-out Tanzhaus in Düsseldorf, a friendly voice announces in German, "From my recent trip to Iran, I've brought back a few mementos to show you. The tents." A slide show appears on the stage curtain, showing images of nylon tents pitched on roadsides, on beaches, and outside mosques; families cooking outside tents, children playing in
tents, tent flaps closing to the photographer.
The voice belongs to Helena Waldmann, forty-three, a name in Germany¹s experimental theatre and dance scene. Last year, Waldmann was invited by the director of the Dramatic Arts Centre in Tehran to give a workshop there.
She didn't know much about the arts in Iran - that dance has been forbidden since the revolution in 1979, or that no Western woman had ever before been asked to work in an Iranian theatre.
On arrival, Waldmann was given rehearsal space on the seventh floor of the arts centre. The director presented her with fourteen of Iran's top actresses, the closest thing to dancers he could offer. In lieu of dance, the Islamic Republic permits "rhythmic movement" - variations on folk dances in which contact between men and women, exposure of the female body, and provocative positions (as defined by a censor) are forbidden. But Waldmann was not interested in folk dance. With the door closed behind them and uniformed men standing guard outside, she asked the
women to line up along a wall-length window and, facing their city, to compose a letter to someone who was important to them. The first woman began her letter with "Dear God," then the others continued until they had drafted a collective plea that culminated with "Please God, come back from holiday." Waldmann had her motif. Beyond the guarded doors, expressing such thoughts was proscribed. When the ten-day workshop concluded, the group had come up with something that, in Waldmann's view, was worthy of a performance. "Letters from Tentland" opened the International Fadjr Theatre Festival in Tehran in January 2005, then toured Brazil and South Korea, before making its way to
Europe and tonight, Düsseldorf.
The curtain rises to reveal six pyramid-shaped tents in yellow, white, rust, beige, red, and dark blue on the darkened stage. A lamp lights up inside one and silhouetted fingers begin to snap. A maraca responds from another tent, then both are joined by clucking from a third tent and trilling from a fourth. The chorus ends with a proclamation: "I act in the spirit of mydirector." Absolved of responsibility for what may come, the tents begin to
move. For a good hour, they rock, run, twirl, roll, leap, cartwheel, and flap. Some attack, others submit; some cling together, others lurk on the margins. Their contents remain hidden, though occasionally a bare arm reaches out to grab, pull, or resist another tent. Through small, screened windows, figures in glittering pyjama-like outfits can be glimpsed now and again.
When the women finally position their faces squarely in the tent windows and stare out into the audience, Waldmann's metaphor becomes clear (chador in Farsi means both tent and veil).
As they move, video images of life in Tehran are projected onto the tents. Persian surtitles race from right to left as translations run in the opposite direction. At one point, a white shadow dances across the tents to the haunting sound of a woman singing alone. The rest of the music is instrumental, oriental, sampled.
Throughout, the tents carry on a dialogue with their director and the audience. Beige says, "We are protected. Our privilege is not to be identified. Your problem is how to identify us." Red, after whirling around the stage, yells, breathless, "I hate the skin of this tent. It makes me sick to touch it. I even hurt myself, punish myself in this tent. It's suffocating me." Blue says, exasperated, "You change the rules every day! Shall I dance? Yesterday no, today yes. I'll stay in my tent, I'll do my own theatre." And all the tents stand on their heads. At the end, only the dark blue tent remains; it has swallowed the others. The tent fly opens and a young woman looks at the audience with an expression of blank curiosity. She speaks in Farsi and waits, then translates: "Voulez vous visiter ma tente?" There's an awkward stillness. The tent fly opens further and the faces of the other women appear. "Please, come and visit our tent!," one of the women beckons. In Brazil, the actresses later tell me, women stormed the tent, crowding in
to complain about the pressure they feel to expose their bodies. In South Korea, no one budged. Here in Düsseldorf, the heart of Germany's extroverted Rheinland, a man strides confidently onto the stage. After some scrambling, he is granted entrance and the zipper closes behind him.
Helena Waldmann cheers loudly from the back of the theatre.
During rehearsals in Iran, the censors had come and gone, a silent presence at the back of the hall. Waldmann assumed she was on safe ground until the dress rehearsal, one day before the festival opening, when eight bearded men appeared. As they conferred afterward, Waldmann, unable to bear the suspense, walked up and asked what they thought. Why tents, they wanted to know. A new dance began. Waldmann described with wonderment her first impression of Tehran. Nomads, victims of the Bam earthquake, people offering provisional services - all living in or working out of tents. The censors accepted this explanation, but had two definite objections to the performance: the singing (Iranian law prohibits women from singing alone)
and the tight clothing and erotic movements of the dancing shadow. Waldmann was able to negotiate twenty seconds of singing, then, to fix the projection, had her video artist spend the night at the computer dressing the shape in pyjamas and making its movements jerkier more in the limbs, less in the chest and hips. The next evening, Tehran saw a slightly clumsy digital shadow instead.
The actresses know that the Iran they will return to would not have tolerated their show. Since the "Letters from Tentland" tour began, the country has elected a new, conservative president and the director of the Dramatic Arts Centre has been fired. Some speculate quietly about the possibility of landing in jail when they go back. Sara Reyhani, twenty-five, takes long drags of a cigarette. "In Iran," she says, "we lead two lives, one inside and one outside. Here in Europe, it's all outside. The freedom you have here is probably more natural. But maybe the hardship we suffer in Iran makes us focus on the important things." She looks down, admiring the cowboy boots she bought earlier that day.
Later that night, Reyhani and some of the other actresses go out on the town. They walk through the streets of Düsseldorf in the rain, stopping at a snack bar to eat German fries and watch all the people. It's past midnight and they are outside.
Naomi Buck Febr 2006 Buck is a Toronto-born writer who lives in Berlin. She is the editor of the online magazine signandsight.com.

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