HELENA WALDMANN
PRESSESTIMMEN
Und dann
"Return to Sender" mit 6 iranischen Immigrantinnen, die in Deutschland leben.
Auf der Bûhne hat jede Tänzerin in einem kleinen Zelt Zuflucht gefunden. Die Zelte ähneln den langen Kleidern, welche die Frauen von Kopf bis Fuss bedecken. Das Gesicht kann man durch in feines Gitter nur erahnen.
In diesem Tentland mit seiner schönen optischen Wirkung geht es um den Zwiespalt. Sie stehen Kopf, verlieren den Boden unter den Füssen in ihrem Doppelleben und dem Publikum schnürt es fast den Atem ab. Die klare Schönheit der Zelte, die wie eine zweite Haut unendlich manipulierbar sind, unterstreicht das Motiv des Eingesperrtseins und der Zerrissenheit, die ein Leben im Exil beinhaltet.
Rosita Boisseau, " Le Monde " June 27, 2006
HELENA WALDMANN PROVOZIERT EIN ERDBEBEN BEIM FESTIVAL MONTPELLIER DANSE
Konnte ich mit so etwas rechnen? Ich hatte schon das Gefühl, dass mich die Choreografie von Helena Waldmann ("Return to Sender - Letters from Tentland") getanzt von sechs Frauen in Zelten (eine Metapher für chador), überraschen könnte.
Ich habe nicht gedacht, dass Tanz in einem solchen Masse ein
politischer Akt sein könnte, eine fast psychoanalytische Massnahme.
"Letters from Tentland" wurde in der Urfassung von 6 Iranerinnen
gespielt, aber die Regierung, die von den innerhalb des Stückes
übermittelten Kritiken erfahren hatte, befahl den Tänzerinnen,
zurückzukommen. Um nicht gegenüber dem totalitären Vorgehen
aufzugeben, hat Helena Waldmann mit 6 Exil-Iranerinnen in Europa weitergearbeitet. "Return to Sender - Letters from tentland" wird heute abend im Festival Montpellier Danse gezeigt mit dem selben Bühnenbild bestehend aus 6 Zelten und zwei Vorhängen, auf die die Briefe an die im Iran Gebliebenen geschrieben werden.
Dieses Werk ist in vieler Hinsicht majestätisch. Obwohl man niemals ihren Körper sieht, ist er ständig präsent. Man sieht nur ihn, man denkt nur an ihn. Die Zelte bilden eine Einheit, und das ist erschütternd. Die Zelten falten und entfalten sich, wie der Schmerz, wie ein Geheimnis, das zu schwer zu tragen ist. Die auf den Vorhang projektierten Briefe informieren über die Lage im Iran, aber richten sich auch an uns. Worauf will Europa hinaus? Warum wird das Leben der Exiliranerinnen durch die Bürokratie zur täglichen Hölle? Ich kralle mich an meinen Sitz, als sich der Wahnsinn in dieses Kollektiv zur Rockmusik einschleicht. Ich bin von ihrer Solidarität berührt, als eine schreit "ich brauche Hilfe". Ich denke an die Feministinnen der 7Oer Jahre. Der Kampf um die Würde der Frauen ist aktuell, universal. Ich habe Angst um
sie, als ein Zelt zusammenfällt, um sich in ein Leichentuch zu verwandeln. Sie wirbeln umher wie ein wahnsinniger Wind, wie in der Bewegung eingesperrt. Familienfotos werden auf die Leinwand projiziert wie der Tchador, der von Generation zu Generation weitergegeben wird.
In diesem Moment gehen mir die 4 Frauen aus Michel Kélémenis Stück "Aphorismes géometriques" durch den Kopf. Es sind die gleichen Frauen. Aus Frankreich und dem Iran, sie tanzen die gleichen Bewegungen, die die komplexen Gefühle in einer von den Männern erdachten Welt beschreiben.
Ich bin ergriffen, ohnmächtig wie einer aus dem Abendland, und dennoch sind diese im Exil lebenden Iranerinnen im Tanzfestival von Montpellier.
Es ist sicher, es muss etwas geschehen, es ist unvermeidlich. Der Tanz wird die Grenzen verschieben.
Im letzten Moment kommen sie aus ihren Zelten....... das Publikum steht und klatscht begeistert. Es dauert nicht lange. Sie bitten um Ruhe. Das Publikum wird keine Möglichkeit mehr haben, Beifall zu klatschen. Sie haben noch einen Wunsch. Sie bitten die männlichen Zuschauer auf die Bühne hinter den Vorhand zu kommen. Ich fürchte die Trennung Mann-Frau. Aber ich stelle mich ihm. Meine Zweifel sind unbedeutend gegenüber
ihrem Einsatz in dieser Kreation. Ich sitze auf einem Kissen hinter dem Bühnenvorhang im Kreis mit anderen Männern. Man bringt uns Tee. Eine der Tänzerinnen möchte mit uns über die Situation im Iran sprechen. Sie spricht englisch. Es ist fast ein Monolog, so stark ist ihr Bedürfnis zu sprechen. Sie kommt immernoch aus dem Zelt. Sie tut das, was die Frauen im Iran nicht dürfen: mit Männern sprechen, ihren Standpunkt vertreten. Wir werden zu "übertragenen" (?) Männern. So geht die Vorstellung auf ganz natürliche Weise weiter: diese im Exil
lebenden Frauen verändern den Platz der im Abendland lebenden Männer.
Begeistert Beifall klatschen genügt nicht mehr. Sie helfen uns, unseren Status als Zuschauer zu überdenken. Das ist heftig, eindringlich wie ein Spiegelbild dessen, was sie Männer in Iran den Frauen antun. Und während ich hinter dem Vorhang sitze,
nehme ich die Geräusche der Frauen im Zuschauerraum wahr. Sie dahinter, wir sitzend....
Ich bin weggegangen, fast wie ein Dieb, um mir ein Solo der
marokkanischen Tänzerin Bouchra Ouizguen am anderen Ende der Stadt anzusehen. Ich bin mit meinem Rucksack losgezogen, ohne Zelt, um die sechs Sternschnuppen vom Iran, am Himmel von Montpellier zu zählen.
Pascal Bely www.festivalier.net, June 26, 2006
LETTERS FROM IRAN
The most impressive piece of the first week of the festival Montpellier Danse was "Letters fromTentland" by the German director choreographer Helena Waldmann, with dancers of Iranian origin. The piece was created originally in 2004 during a workshop Waldmann gave in Iran, in which the participants wrote to friends and relatives around the world about life in Iran. The letters never reached their destination and were sent back to senders. From the workshop emerged a movement piece which succeeded also in Iran, until banned by the authorities
Waldmann returned to Germany to produce a new version, with six German participants of Iranian origin. This version is presented at the festival.
During the piece the dancers live, sing and converse in light tents, that one could fold and carry from place to place. Their sensations are amplified by the tents - jumping, rolling, squeezing and expanding, swallowing one another. On the tents landscapes of big western cities are projected, as well as photographs of relatives in Iran.
The tent resembles the traditional robe, the Chador, which covers women's bodies, and when they peep out of the tent's windows it seems as if they look through a crack in a veil. From time to time a white screen descends in front of the stage, on it the letters are printed with an old writing machine - a documentation of immigrant's difficulties, those who left their homeland in search of freedom, and now their wings are cut off, in a new land.
Ruth Eshel, Ha'aretz July 9, 2006
SEHNSÜCHTE IN ERWARTUNG DES NÄCHSTEN TAGES
Die in ihren Zelten verstrickten Tänzerinnen versuchen, ihren Lebensbereich abzustecken. Aber sie finden sehr schnell heraus, dass sie nur den intimen Raum, in den man sie eingesperrt hat, kontrollieren können. Hinter dem Schleier bewohnen sie den abgesicherten Raum. Sie stossen sich heftig und mit Leidenschaft an ihm, um zu existieren.
Der Körper verschwindet, aber man fühlt, wie er im Innern vibriert. Man sieht flüchtig einige Gesichter, die sich abheben, ohne dass man ihren Gesichtsausdruck wirklich einfangen kann. Es bleiben nur die Bewegungen und die Schreie. Auch einige Momente der Solidarität, wenn ein körperlicher Kontakt zwischen den Stoffen und durch sie hindurch entsteht. Man hört den stillen Kampf der Seele, die aufbegehrt, um sich zu behaupten. Und dieser Kampf produziert ganz sicher mehr als eine vielsagende Gewalt. Zwischen den getanzten Teilen übersetzt ein Briefwechsel die Schmerzen des Exildaseins. Das erträumte Europa stellt sich als neues Gefängnis heraus.
Die Aussage dieses Stückes, sehr von der kulturellen Zugehörigkeit gezeichnet, begnügt sich dennoch nicht damit, von den Lebensbedingungen der Frauen im Iran zu sprechen. Es wird unterstrichen, dass die in diesem Stück ohne Umschweife geforderte innere Freiheit weit davon entfernt ist, in den demokratischen Ländern gesichert zu sein. Der Zuschauer, dazu verdammt, die menschliche Natur, die von den vorherrschenden Werten der Gesellschaft versteckt wird, zu erraten, entdeckt langsam, dass er in Zelten lebt. Das ist schon ein Erfolg.
Jean-Marie Dinh L'HERAULT July 2006
MONTPELLIER DANSE ÖFFNET SICH ANDEREN KULTUREN
Nach 'Letters from Tentland' kreierte Helena Waldmann ein neues Stück 'Return to Sender'. Dieselben Zelte, dieselben berührenden Bilder der unter ihrem Schleier eingeschlossenen Frau. Auf dem Umweg über schriftliche Vertraulichkeiten wird
das Thema dieser Kreation noch universeller und streicht das Schicksal aller Entwurzelten heraus, die in ihrem Herzen ihre auf ewig verlorene Kultur tragen.
Es ist zu hoffen, dass diese Botschaft nicht nur in Montpellier verkündet werden wird.
Sophie Lesort, La Croix July 3, 2006
HELENA WALDMANN «RETURN TO SENDER - LETTERS FROM TENTLAND» AUS MONTPELLIER
Manche wähnen das Land der Zelte irgendwo dort, wo einem die Zensur einen Strich durch die Rechnung macht. Doch Tentland liegt überall. In Ansichtskarten aus aller Herren Länder schnitt
Helena Waldmann jene konischen Zelte, die im Iran das «schwache» Geschlecht vor männlichen Blicken «schützen». Es ist eine Frage der Perspektive.
Auch im Iran haben die Menschen ein normales Leben, nur eben nicht in der Öffentlichkeit, sagt die Leiterin des Projekts. «Return to Sender - Letters from Tentland» ist ihre Antwort auf den «Wunsch» der iranischen Regierung, das Stück mit den sechs Zeltbewohnerinnen aus Teheran nicht mehr zu spielen. Weitere
Aufführungen wären ein Risiko für die Darstellerinnen gewesen. Jetzt erzählen sechs Exiliranerinnen im Zelt von ihrer Fremdheit in Europa. Für ihre «Schwestern» in Teheran sind sie «das Bild der Freiheit».
Doch der Schein trügt. So neigen, drehen und falten sie ihre Polyamid-Käfige genau wie in der ersten Version. Sie stehen Kopf, singen, hüpfen, schreien und mahnen wie in «Letters from
Tentland». Dieser Titel, durchgestrichen von «Return to Sender», wirkt wie gestoppt von einem Schlagbaum. Die Briefe der Teheraner Frauen werden nicht mehr zugestellt. Tänzerinnen von
Zelten verhüllt, das bedeutet inneres Exil für den Tanz. «Ich glaube, die Zensoren im Iran sind gar nicht auf die Idee gekommen, dass Zelte tanzen könnten», antwortet Waldmann auf die Frage, welcher Kunst das Stück in Teheran
zugeordnet wurde.
Zelte können noch weit mehr. Ihr tragisches Ballett trägt in sich den Kern von bildender Kunst und sogar von Humor. Da öffnet sich ein Fenster zum Animationsfilm, zu Objekttheater mit
Slapstick. Aber der Anlass ist ernst. Einer der Zeltkörper verwandelt sich in einen gefolterten Drachen, der immer wieder seinen Kopf auf den Boden schlägt, erdrückt von westlicher Bürokratie und psychischer Last. Ihre Tränen bleiben unsichtbar. Andere falten sich (ihr Zelt) zusammen wie ein Blatt Papier.
Abgestempelt. Hin und her gewürfelt. Das Innenleben nach außen gekrempelt. Was man außen sieht, sind selbstbewusste Frauen von westlichem Habitus. So wird das Stück zur universellen
Metapher auf das Problem der Entwurzelung.
Ihre Atemnot entsteht im Kopf. Nicht im eigenen Körper sind sie fremd, sondern in ihrer Umgebung. Es ist die Angst, im Westen etwas zu sagen oder zu tun, das die Familien im Iran ins
Fadenkreuz des Regimes bringen könnte. So rütteln in der Koproduktion von Montpellier Danse nicht mehr unterdrückte Menschen, sondern Fremdkörper an ihren Gefängniswänden.
Da es jetzt nicht mehr um ein Problem im Zusammenhang mit islamischer Kultur geht, laden sie nach der Vorstellung nicht länger die Frauen hinter die Bühne zur Diskussion, sondern die
männlichen Zuschauer. Nicht um über persönliche Schicksale zu reden, sondern über die verkannte Komplexität sozialpolitischer Realität im Land ihrer Herkunft. «In Europa müssen wir immer
wieder neu erfinden, wie wir uns bewegen können, tanzen oder singen.»
Thomas Hahn, ballettanz Aug 2006
VERTEIDIGERIN DER FREIHEIT
Das politische Tanztheater ist nicht tot. Es ist nicht einmal vom Aussterben bedroht - auch wenn die Orgien der Selbstbezüg- lichkeit, die die Bühnenkunst der 90er Jahre prägten und bis heute fortwirken, diese Befürchtung schürten.
Der interventionistische Tanz deutscher Prägung, die kritisch-abstrahierende Gesellschaftsanalyse in der Nachfolge von Kurt Jooss, Hans Kresnik, Gerhard Bohner, Pina Bausch lebt derzeit in mannigfaltiger Weise auf: sarkastisch bei Jochen Roller, herausfordernd bei Constanza Macras, humorvoll bei
Marguerite Donlon, feinfühlig bei Christian Spuck, rabiat bei Sasha Waltz, am kontroversesten jedoch bei Helena Waldmann. Die jüngsten Stücke der Berliner Choreografin machen Hoffnung, dass der Tanz sich auch künftig einzumischen vermag in den Weltenlauf, ohne in Agitprop auszuarten, und dass Abstraktion nicht notwendigerweise Eskapismus bedeutet. Unter dem Titel
»Letters from Tentland« erforschte Waldmann gemeinsam mit einer Gruppe iranischer Frauen den Begriff der Freiheit und erfand die geniale Metapher der tanzenden Zelte, um sowohl die unendlichen Möglichkeiten als auch den begrenzten Raum unserer Freiheit zu illustrieren. Dass die Arbeit im Iran
entstehen konnte, wo der Bühnentanz seit über 20 Jahren tabu ist, bewies einmal mehr die grenzüberschreitende Kraft des Ästhetischen. 43 fulminante Gastspiele in 17 Ländern absolvierte das Ensemble, bis die iranische Regierung schließlich einschritt und den Tänzerinnen nahelegte, das Tanzen in ihrem eigenen Interesse lieber sein zu lassen. Daraufhin castete Helena
Waldmann sechs Exil-Iranerinnen für eine Reprise. »Return to Sender« heisst dieser neuerliche Entgrenzungsversuch, der im September Deutschlandpremiere feiert: eine Intervention auch gegen die Beschränktheit unserer aktuellen Migrationsdebatte und gegen die apokalyptische Rhetorik der Clash-of-Cultures-Propheten. »Meine Zelte sind wie Briefumschläge , und die darin enthaltenen Menschen sind Botschaften, die man sich auch einmal bemühen muss zu lesen«, sagt sie. Was wüssten wir schon über iranische
Frauen? Und worin bestehe denn unsere eigene viel gepriesene Freiheit wenn nicht in der Chance, die Welten ausserhalb unserer vertrauten Welt zu entdecken? »Doch nicht im Konsumterror oder darin, dass wir im Minirock rumlaufen.« Helena Waldmanns Methode ist Aufklärung der Aufklärung, also radikale Infragestellung, auch unserer selbst. So handelte das harte
Flüchtlingsstück »Crash«, das sie zusammen mit Marguerite Donlon im Frühjahr 2006 inszenierte, von all jenen tragischen Gestalten, die vergeblich gegen die befestigten Außengrenzen der europäischen Union anrennen. Waldmanns Theater erschüttert unsere Gemütsruhe und entbirgt die moralischen
Widersprüche der Gegenwart. Es ist nicht geeignet, uns über die
Unzulänglichkeit unserer Gattung zu trösten, aber es kritisiert uns in spektakulären Bildern und intellektuell avanciertem Stil.
Evelyn Finger, Jahrbuch ballettanz 2006
ANGST IM GEPÄCK
Die Zelte sind noch dieselben, made in Iran. Doch die Bewohnerinnen sind jetzt andere – mit anderen Geschichten. Helena Waldmann hatte als erste westliche Choreografin ein Stück im Iran erarbeitet. „Letters from Tentland“, im Januar 2005 in Teheran uraufgeführt, war nicht nur ein Politikum, sondern in erster Linie ein exzeptionelles Theaterereignis. 43 Vorstellungen in 17 Ländern – ihr Zelt haben die sechs Iranerinnen in der ganzen Welt aufgeschlagen. Anfragen gab es noch viele, doch nach dem Regierungswechsel wurde es für die Darstellerinnen schwierig auszureisen. Aber Helena Waldmann weiß, wie man Schwierigkeiten produktiv begegnet. Sie hat sich entschlossen, ihr Stück neu zu inszenieren und einen radikalen Perspektivwechsel vorzunehmen.
„Return to sender – Letters from Tentland“, das beim Kunstfest Weimar seine Deutschlandpremiere erlebte, ist wie ein Antwortschreiben formuliert. „Liebe Banafshe, Mahshad, Pantea, Sara, Sima, Zoreh!“ beginnt die Regisseurin den ersten ihrer fünf Briefe. Sie weiß, dass diese Briefe nicht in Teheran ankommen, doch sie will die Korrespondenz nicht abreißen lassen. Und die eigentlichen Adressaten sind natürlich die Zuschauer.
Zum Thema
BerlinGuide: Theater & Bühnen
Sechs Exil-Iranerinnen, sie alle leben in Berlin, bewohnen nun die Zelte. Und das ist erst einmal eine Provokation. Denn die meisten der jungen Darstellerinnen (einige kamen bereits als Kind mit ihren Eltern nach Deutschland, eine hat den Status einer politisch Verfolgten) haben nie den Tschador getragen, und sie sprechen deutsch so gut wie Farsi. Sie haben – so meint man – die Segnungen westlicher Freiheit erfahren und können es sich leisten, zum anschließenden Gespräch nur die Männer hinter den Vorhang zu bitten. (Bei den Iranerinnen hieß es noch: Ladys only!) Diese selbstbewussten, attraktiven Frauen steckt Waldmann in ein enges Gehäuse, das sie bis zum Schluss nicht verlassen dürfen. Die Rechnung geht auf: In „Letters from Tentland“ war das Zelt vor allem eine Metapher für den Tschador; es lockte die verborgene Welt hinter dem Schleier. Hier nun versinnbildlicht es die nomadische Existenz, das innere Unbehaustsein. Und es spielt an auf das Unsichtbar-Sein vieler ausländischer Frauen. Die fremde Haut, die sie für viele zu anderen macht. Und das Zelt verweist auch auf das Erinnerungsgepäck, das Migranten mit sich herumschleppen.
Zu Beginn schlüpfen die sechs farbigen Zelte aus einem schwarzen Mutterzelt. Sie müssen sich durch einen schmalen Spalt pressen, sich mühsam aufrichten und auseinander falten. Eins bleibt liegen, wie ein Flunder robbt es über den Boden, während die anderen sich schwankend auf den Weg machen.
„Wo kommst Du her? Wer bist Du? Wo ist Dein Zuhause? Gehst Du wieder zurück?“ Vier Fragen wie Ohrfeigen. Sanam haut sie in ihrem wütenden Monolog dem Publikum um die Ohren. Aus dem Zeltversteck dringen deutliche Worte und verschlüsselte Botschaften, laute Gesänge und innige Gebete. Helena Waldmann betätigt sich wieder als raffinierte Verpackungskünstlerin. Wie in einem abstrakten Ballett wirbeln die sechs Zelt e über die Bühne. Sie stehen Kopf, schlagen Purzelbäume, schwanken und flattern, ziehen sich zusammen und werden gehäutet. Es ist grotesk und anrührend anzusehen, wie das Stück von eingeschränkter Wahrnehmung und Orientierungsverlust erzählt. Waldmann lässt ihre Darstellerinnen in schmerzlich reduzierten Spielräumen agieren und spürbar gegen Widerstände ankämpfen. Die Erinnerungen an die ferne Heimat werden zur Zuflucht. Und die Ansichten von Teheran werden überblendet von einem Puzzle aus Familienfotos.
Doch „Return to sender“ ist kein Stück über den Iran, es ist vor allem ein Stück über das Exil – und über die Angst. „Ich bin überrascht, dass die Angst auch hier in Europa so groß ist“, schreibt Helena Waldmann im zweiten Brief. Die Sicht der Regisseurin – in den Briefen in politisch-polemischen Ton formuliert – schiebt sich vor das Spiel der Darstellerinnen, die immer wieder einzelne Szenen aus den Teheraner „Letters“ überschreiben. Man muss ständig zwischen den Zeilen lesen. Die durchschlagende Kraft der ersten „Letters“ erreicht das Antwortschreiben zwar nicht, aber die Darstellerinnen agieren dabei mit einer wahren Ausdruckswut.
Das großartige Schlussbild zeigt die Enthüllung. Eine Utopie, vielleicht, auf jeden Fall eine schmerzliche Häutung. In einem wilden Tanz werfen die Frauen ihre Stoffhülle ab. Und man begreift, wie schwierig es ist, sich aus diesen Zelten zu befreien, aus dieser Schutzhaut, diesem Versteck.
Wiederaufführung am 14. und 15. Oktober im Radialsystem in Berlin
Sandra Luzina, Der Tagesspiegel August 12, 2006
TAUMELNDE HÜLLEN
Lange Reihen von Briefzeilen laufen über eine riesenhafte Zeltwand wie über einen Monitorschirm mit Bildprojektionen aus Straßen und Plätzen der Welt; zwergenhaft klein hocken einzelne Zelte vor Hochhauskulissen und Landschaften. Auf der leeren Bühne steht eines dieser Kuppelzelte. In seinem Inneren beginnt es zu rumoren, der Reißverschluss öffnet sich, aber es tritt kein Mensch heraus, sondern wie bei einer Geburt schlüpft ein weiteres Zelt aus dem engen Schlitz, rutscht ein Stück auf dem Boden entlang, bäumt sich auf und fällt schließlich zurück.
Wieder gebiert des „Mutterzelt“ ein neues, diesmal kann sich das Zelt aufbauen, aufstehen und mit einem langsamen Tanz beginnen. Zelte tanzen wie ungeschickte, nicht ganz entfaltete Schmetterlinge, sie fallen auf die Seite, sie stehen auf dem Kopf, sie können sich in einer Reihe hin und her schaukeln.
(…) Als tief beunruhigendes, erschütterndes Bild wird sich dieser Tanz in die Theatergeschichte einschreiben.
(…) Quälend und schön zugleich ist der Tanz, der immer beweglicher und geschickter wird, bis zum Schluss in einem spannungsvollen Befreiungskampf jeder einzelnen Tänzerin das Herausschlüpfen aus der Hülle als befreiende, auch die Zuschauer entlastende Metamorphose gelingt. Knallend fallen die Zelte zu Boden, strahlend charmante junge Frauen laden die Männer, danach die Frauen im Publikum ein zu Gesprächen mit Tee hinter dem Vorhang.
In einer leisen, entspannten Atmosphäre erzählen Helena Waldmann und ihre Tänzerinnen von dem Abenteuer dieser Choreographie über Vorurteile, in die Menschen sich selbst und gegenseitig einsperren.
Gisela Schmoeckel, Bergische Morgenpost, 30. Oktober 2006
„KOMMT DOCH ENDLICH HERAUS!“
„Wir möchten die Männer im Publikum jetzt einladen, hinter den Vorhang zu kommen. Bitte fühlen Sie sich nicht benachteiligt, meine Damen, aber wir glauben, dass die Männer es nötiger haben“. Etwas zögerlich folgen die Herren nach der Vorstellung von „Letters from Tentland – Return to sender“ der Einladung, und weil das Teo Otto Theater in Remscheid nicht sehr gut gefüllt ist, dürfen die Frauen dann doc nachkommen. Wäre auch jammerschade, wenn sie diesen zweiten Teil des Stücks verpasst hätten.
Eine volle Stunde lang sitzen Publikum, Darstellerinnen und Choreografin Helena Waldmann auf Kissen beieinander und reden. Über das Gesehene und alles, was sich an Fragen daran entzündet: Nach dem Entstehen des Stücks, nach der Situation im Exil, den Lebensgeschichten der iranischen Darstellerinnen, nach den Erfahrungen und Gefühlen von Fremdsein, Heimat, Freiheit und dem, was man fälschlich dafür hält.
Es sind angeregte Gespräche, interessierte Fragen und freimütige Erzählungen. Die Atmosphäre ist ungezwungen – vielleicht gerade weil hier jemand Ernst macht mit dem Anspruch, mehr als nur schöne, interessante, bewegende Bilder zu produzieren. Helena Waldmann bringt nicht nur gesellschaftlich relevante Themen in eine künstlerisch höchst anspruchsvolle Form. Indem sie so wie hier Begegnungen im Gespräche stiftet, greift ihre Kunst tatsächlich ein in diese, unsere, gesellschaftliche Wirklichkeit. Indem die Menschen „ins Zelt“ auf die Bühne kommen, wird im doppelten Sinn der Graben zwischen Theater und Leben überschritten.
Die Wirkung würde freilich verpuffen, wäre das Ganze nur gut gemeint und nicht ebenso gut gemacht. Doch das Stück selbst ist beeindruckend und von immenser Vielschichtigkeit. Theater, Sprache, Schrift, Bewegung, Farbe, Licht, Musik, Sound und Videoprojektion greifen perfekt ineinander – das ist darstellende genauso wie bildende Kunst.
In „…Return to sender“ antworten sechs Exil-Iranerinnen ihren Kolleginnen in der Heimat, mit denen Helena Waldmann das Vorgängerstück „Letters from Tentland“ produzierte. Sie „bewohnen“ jetzt die Zelte, welche von diesen zurückgelassen wurden. Sie tanzen mit und in diesen Zelte, sie falten sich damit flach wie eine Flunder zusammen, sie breiten sie aus und flattern damit, als suchten sie, mitsamt ihrem Zelt in die Freiheit zu fliegen; sie rennen von innen gegen die Wände.
Symbolisierte das Zelt mit seinem kleinen Sichtfenster im ersten Stück noch den Körper und Gesicht der iranischen Frauen verhüllenden Tschador, stehen sie jetzt für die Situation im Exil, für das (unfreiwillige) Unterwegssein, für ein fragiles provisorisches „Zuhause“, Schutz und Gefängnis zugleich. „Kommt doch endlich heraus!“, will man ihnen zurufen. Als sie am Ende des Stücks endlich die Reißverschlüsse öffnen und die beengenden, schützenden Hüllen fallenlassen, ist das wie eine Befreiung – für beide Seiten.
Anne-Kathrin Reif, rga, 30. Oktober 2006
FREIHEITSSUCHE IN DER FREMDE
(…) Helena Waldmanns Tanztheaterstück „Return to Sender“ beeindruckte im Theater im Pfalzbau, das auch Koproduzent ist, ein zahlenmäßig nicht sehr großes, aber hochinteressiertes Publikum. Es ist die Fortsetzung oder eher Umkehrung von Waldmanns 205 im Iran erarbeiteten Produktion „Letters from Tentland“, in der sechs in Zelten versteckte Frauen von ihrem Leben berichteten. Auch das neue Stück bietet politisch brisantes Tanztheater von hoher ästhetischer Qualität und interkultureller Kompetenz.
(…) In „Return to Sender“ sind die Zelte Behausungen, in denen sich die Bewohnerinnen einschließen. Sie sind das Stück Heimat, das sie in der Fremde umhüllt. Sie schleppen es mit sich wie eine Last, Sie verkriechen sich darin wie in einem Schneckenhaus. Sie wirbeln damit herum in heftigen Sprüngen und Drehungen. Und sie verharren darin reglos wie in einer Klause, die nicht hinein- und nichts herauslässt. Manchmal wird ein Guckfenster aufgerissen, ragt eine Hand heraus, die eine andere Hand sucht. Am Schluss werden die Frauen die Zelthülle stampfend und sich schüttelnd abstreifen, um als freie Individuen aus dem Kokon zu schlüpfen.
(…) Die Projektion der Briefinhalte gliedert das Tanzstück in Abschnitte. Ihre Botschaften leiten den Betrachter bei der Dechiffrierung der jeweils folgenden Tanzsequenz. Helena Waldmann hat berührende Bilder gefunden für das Sichverschließen und das Sichöffnen, für Sichaufbäumen und Sichzurückziehen, für In-sich-eintauchen und Aus-sich-herausgehen, für Aufschrei und Stille, für Aktion und Kontemplation. Einmal verschieben sich die bunten Zelte langsam, ein andermal laufen sie schnell durcheinander, sie verbiegen und verformen sich in vielfältigen Knickungen, stellen sich auf den Kopf, reihen sich auf und stehen dann einfach da, gerundet oder zusammengequetscht. Videobilder laufen über sie hin; Lettern mit postalischen Stempeln, eine iranische Stadtlandschaft, in die sich Porträts zurückgelassener Angehöriger einfügen. Das ist ergreifend, schlicht und schön.
Heike Marx, Die Rheinpfalz, 27. Februar 2007
FREIHEIT IM ZELT
(…) Zum Abschluss sitzt das Publikum in weiten Kreisen auf dem Bühnenboden des Pfalzbautheaters und spricht bei einem Becher Tee mit den sechs Akteurinnen über Helena Waldmanns Choreografie „Return to Sender“, über das Leben im Exil, Integration und unmenschliche Behörden-Bestimmungen. Die Gespräche kommen mühsam in Gang, aber die Darstellerinnen, die noch vor wenigen Minuten heftig gegen die Wände von Einzelzelten trommelten, eröffnen die Runden mit gewinnender Lockerheit und brechen das Eis, indem sie kurz ihre Lebensläufe erzählen.
Monika Lanzendörfer, Mannheimer Morgen, 28. Februar 2007
DIE ZELTE TANZEN UND WÜTEN, KOLLABIEREN UND STEHEN STILL
(…) Die Zelte sind noch dieselben, aber bewohnt sind sie nun von Exil-Iranerinnen, die aus unterschiedlichen Gründen ihre Heimat verlassen haben – und die alle professionelle Künstlerinnen sind. Für diese Frauen stellen die provisorischen Zelte ein Symbol für das heimatlose Leben zwischen den Ländern und Kulturen dar.
In dem gut einstündigen Stück, in dem die Zelte anfangs in einem mühsamen Akt aus einem Mutterzelt quasi geboren werden, spielt Helena Waldmann, wie bereits im Vorläuferstück, gekonnt auf einer ganzen Klaviatur künstlerischer Mittel: Neben einem eindrucksvollen Körpertheater (die Zelte können tanzen und wüten, kollabieren und starr stillstehen) verwendet sie diesmal mehr Sprache – die Exilantinnen sprechen überwiegend sehr gut deutsch -, dazu Video, Fotomontagen, Textprojektionen und Musik.
Es gibt natürlich etliche Überschneidungen mit dem Tentland-Projekt, dennoch ist die Sicht auf die Zelt-Metapher hier neu, differenziert und durchaus originell.
Isabelle v. Neumann-Cosel, Rhein-Neckar-Zeitung, 14. März 2007