HELENA WALDMANN
PRESSESTIMMEN
Brennende Fabriken, Arbeitssklaverei und Ramschware – das ist unser Bild von der Billiglohn-Textilindustrie. Was daran richtig ist und was falsch, hat die Tanzregisseurin Helena Waldmann ergründet
Ende November 2014 hatte «Made in Bangladesh» Premiere in Ludwigshafen, im Theater im Pfalzbau. Danach ging das Stück auf Gastspielreise durch deutsche Städte, tourte in Indien, war Ende Januar sogar in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesh, zu sehen, wo es auch entstanden ist. Es wird weiter reisen, weiter seine Kreise ziehen. Und allüberall gibt die Tanzregisseurin Helena Waldmann Interviews. Die Pressemaschine rattert, der Gesprächsbedarf ist offenbar hoch, höher als bei anderen Tanzgastspielen, oder er wird selten so deutlich erkannt wie hier. Die Nachfrage bestimmt, was geht auf dem Markt. Dieses Stück trägt immerhin einen Titel, der ein Etikett ist und einen benennbaren Inhalt mit sich führt. Und zwar einen, der jedem halbwegs aufgeklärten Bürger etwas sagt, weil er in viele Textilien eingenäht ist und in die Schlagzeilen geriet. Er steht für: Kleidungsindustrie, billige Klamotten.
Der Einsturz
Helena Waldmann arbeitet seit Langem mit Inhalten. Es ist nicht vorhersehbar, was sie sich jeweils als Nächstes vorknöpft und welche Darstellungsform sie dafür entwickelt
Die Geschichte von «Made in Bangladesh» begann auf einer Reise, die Helena Waldmann 2010 unternahm, als sie im Rahmen eines Indien-Gastspiels in Kalkutta war und weiter bis Dhaka fuhr. Seltsame Gebäude inmitten der Felder fielen ihr auf. Das sind Kleiderfabriken, sagte man ihr, und sie gruselte sich angesichts der Menschenmassen, die sie hineinströmen sah.
In Berlin traf sie Lubna Marium wieder, die in Dhaka das Kulturzentrum Shadhona leitet und ihr sagte: Ja, das ist ein Thema, die Kleidungsindustrie ist ein Stück wert, zumal nach der Katastrophe von Rana Plaza. Im April 2013 war eine solche Fabrik eingestürzt, nicht der erste fürchterliche Unfall in einem solchen Großbetrieb, aber diesmal starben mehr als 1100 Frauen und Männer in den Trümmern. Ein Foto des in sich zusammengesackten Gebäudes und tausender Menschen drumherum kehrt in dem Stück nun wieder, projiziert an die Rückwand, im Vordergrund eine Hand, die auf etwas zeigt, was nicht auszumachen ist aus der Distanz. So geht es allen, die von Weitem auf den unvorstellbaren Schrecken schauen, und so ging es Helena Waldmann, die in das Land reiste und mehrfach wiederkam.
Sie machte sich ihr Bild, das, wie sie sagt, «viel weniger schwarz-weiß war, sondern viel Grau hatte». Traf sich mit Fachleuten und Aktivisten, schaute sich Fabriken an und sah dort Frauen, die ehrlich froh waren über ihre Arbeit. Weil sie sonst keine hätten und damit keine Freiheit, ein wenig über ihr Leben zu entscheiden. Und sie sah die Tänzer im Shadhona-Zentrum und den Kathak, den klassischen indischen Tanz, den sie dort tanzen. Eines seiner Charakteristika sind die schnellen Fußstampfer, die vertrackten Raga-Rhythmen folgen. Die Tanzregisseurin erkannte die Möglichkeit, zwischen den vertikal ausgerichteten Tänzerkörperm und den Nähnadeln eine Korrespondenz herzustellen. Eine schlagende Idee. Spitzenschuhe trägt in Bangladesh eh niemand, und das Thema nicht mit Europäern umzusetzen, sondern mit Landsleuten, macht das Etikett «Made in Bangladesh» glaubwürdiger.
Es war ein mühevoller Prozess. «Für die Tänzer war es eine Reise auf den Mond», fasst die Regisseurin zusammen, die erst lange per Casting nach fähigen Tänzern suchte und sich dann mit ihren Ideen, unterstützt vom Kathak-Choreografen Vikram Iyengar aus Kalkutta, einen Weg durch das Unverständnis der auserwählten neun Frauen und drei Männer bahnen musste. «Ich habe niemanden gezwungen.» Stattdessen haben die Akteure das Stück zu ihrem eigenen gemacht. Sie sind stolz. Wann sieht man schon, dass sich Tänzer derart herzlich über Applaus freuen.
Minilöhner
Respekt, darum geht es in «Made in Bangladesh». Tänzer, erzählt eine aus dem Ensemble, werden in ihrem Land für Shows gebucht, einmal im Monat, maximal zweimal pro Woche, und nur dafür bezahlt. Oder auch nicht. Oft schaue niemand hin, denn Tanz gilt bloß als dekoratives Beiwerk von Feierlichkeiten. Als Helena Waldmann ihr Tänzerteam mit einer gleichgroßen Gruppe von Näherinnen zusammenbrachte, gab es sogar Neid auf die Fabrikarbeiterinnen. Diese setzen sich für einen Minilohn einem unerbittlichen Akkordsystem aus, angetrieben von Sollstückzahlen und Lieferterminen, die einzuhalten dem Fabrikbesitzer von den Einkäufern diktiert wird. Die Einkäufer wiederum sind von Großunternehmen abhängig und diese von Bankkonsortien. Aus Furcht vor Image- und Auftragsverlust, vielleicht auch aus vernünftiger Fürsorglichkeit, investieren etliche Unternehmer inzwischen in besseren Feuer- und Arbeitsschutz. Wenn nicht gerade der Wille dafür fehlt, so wie jetzt. Wegen zweier unversöhnlicher Politikerinnen an der Staatsspitze versinkt das Land fast im Bürgerkrieg, Lieferungen stocken. Vietnam, Burma, Kambodscha heißt die Konkurrenz. Äthiopien ist das Billiglohnland der Zukunft – bis auch die wieder vorbei sein wird. Man möchte schreien, um noch das Mindeste zu sagen. In Helena Waldmanns Stück fassen die Akteure die Missstände in einer Geste zusammen, erst tut es eine Einzelne, später ziehen alle nach, so entschieden wie wütend: Halsabschneider.
«Brother» steht auf den Nähmaschinen, an denen auf dem Programmheftfoto die Arbeiterinnen sitzen. Lubna Marium hält ein Plädoyer für ihre Landsleute, «eine großartige Nation. Wir sind liberale Muslime, wir singen und tanzen.» Sie brauchen die Industrie, ja, – «aber anders!» Und bloß keinen Boykott, bitte! Der Staat ist korrupt, offen verbandelt mit der Kleidungsindustrie, Gewerkschaften sind unzulässig, Streiks selten, ein häufiges Phänomen dagegen ist der sogenannte Hartal, eine Art Generalstreik, um politischen Druck zu erzeugen. Marium sagt, «wir haben also eine Protestkultur». Die Leute gehen für ihre Rechte auf die Straße. Diesen Protest auch in die Welt zu tragen, «zu euch», dafür braucht sie jemanden wie Helena Waldmann. Und deren Art, im Theater Themen anzuzetteln.
Kathak Kathak Kathak
Für diese Frauen, an ihrer Stelle, und doch auch für die eigene Profession, stellen sich die Tänzer in einer Reihe auf der Bühne auf, zunächst ohne ihre Gesichter zu zeigen, vom Kopf bis zum bloßen Fuß farbenfroh gekleidet in Salwar Kameez, weite Langhemden, Hosen, Kopftücher. Sie arbeiten. Erst nur mit den Füßen, den Fersen. Anheben, senken, auf, ab. Die Knie leicht gebeugt. Das Absetzen auf den Boden wird allmählich hörbar, der ganze Fuß kommt zum Einsatz, tappt dann auch mal im Winkel oder setzt zur Seite und wieder heran. Zwischenschritte. Alle gemeinsam werden immer schneller, aus dem Sohlengetrappel wird Musik. Köpfe klicken zur Seite, die Hände bekommen zu tun, die Arme buchstabieren die Geometrie des Kathak, nach oben, unten, seitlich, diagonal. Manchmal sehen sie aus, als würden sie Stoffbahnen abmessen – ewige Wiederholungen. Die Schar formiert sich zu mehreren kürzeren Reihen, entsprechend den zu Linien sortierten Arbeitstischen in den Fabriken, deren Output ständig kontrolliert wird. Sie halten die Stellung, fast ununterbrochen in Bewegung, einem strengen Muster gehorchend und einem Lautsprecherkommando. «Besucher kommen, jetzt lächeln!»
Später treten sie auf in elegant schlabbriger, farblich gedeckter Kleidung, und ein leibhaftiger Trainer, Caster oder Choreograf ordert sie auf ihre Plätze, treibt sie an und fordert: «Lächeln!» Sie tun im Prinzip das gleiche wie vorher, man erkennt die Linien wieder, doch diesmal auf der anderen Seite der Bühne, wie gespiegelt, und im Detail etwas weicher. Neu ist der Ansatz, in diesem Zusammenhang von Billiglöhnen, Ausbeutung, Angst vor Jobverlust und Altersarmut zu sprechen, wie es Helena Waldmann in Videos andeutet und bei Publikumsgesprächen tut.
«Made in Bangladesh» ist aus schwererem Stoff, es macht sich nicht klein. Darum geht es. Sonst gilt: Das Billige wird benutzt, aber nicht respektiert. Wir haben wohl verlernt, Wert (wirklich) zu schätzen.
Melanie Suchy, TANZ, Mai 2015
MADE IN BANGLADESH
Made in Bangladesh is a critique of the willingness to ignore the human cost of cheap Bangladeshi products.
This project, born from Waldmann’s shock at the working conditions in Dhaka sweatshops, also levies a critique of market forces in dance, both in Bangladesh as well as in Europe.
Made in Bangladesh is an engaging, well-crafted, thoughtful and entertaining dance. What made Made in Bangladesh work so well is how sensitively Waldmann handled both definitions of political: she exposed European (wilful) ignorance and simultaneously managed not to reduce the dancers to exotic foreigners. She accomplished this by using (relatively little) material based on the Indian dance form Kathak. The steps were taken out of their traditionally narrative format and combined bricolage-style into movement phrases. This had the effect of making an essentially post-modern work from traditional Kathak dance material. And while that sounds a tad sterile, it was deeply interesting, feeding the audience a satisfying meal, without resorting to syrupy, potato chip tactics.
What Waldmann also did extremly well was to transport a feeling that mixed both the monotony and the extreme hectic pace of sweatshop life. The dancers beat their feet percussively on the ground, in shifting but followable rhytms. Arm gestures created a flurrying tapestry in as a whole. Twice, between the line formations, a sequence of turns was performed in rows of dancers. The turns moved row by row through the formation, before beginning again like a typewriter, but at a delirious, stenographic speed, exemplifying both the tedium and the tempo of a factory life. The tempo was propelled by a metronome incessantly ticking throufg the performance, counting down till the end of the day, till the workers retired, or perhaps to the next accident.
Dwayne Holliday, DANCE EUROPE, January 2015
GROSSARTIGES TANZGASTSPIEL "MADE IN BANGLADESH" IN JENA
Helena Waldmann lässt ihre zwölf Tänzerinnen und Tänzer präzise wie Maschinen im Ka- thak-Stil mit nackten Füßen auf den Boden stampfen. Schneller, immer schneller. Wie Roboter führen sie die immer gleichen Armbewegungen aus, mit denen tausendmal am Tag Hemden, Blusen, T-Shirts produziert werden. Im Hintergrund auf die Leinwand projiziert, tackern Nadeln ins Nichts.
Aus dem Off fordert die Stimme des Vorarbeiters: Wir müssen besser werden, viel besser. Und als wäre das nicht genug, formieren sich die Performer zum Chor und flüstern, zischen, schreien das Klicken und Tackern der Nähnadeln ins Publikum. Bis zum Letzten verausgaben sie sich, beteuern, dass sie glücklich sind, und bitten darum, "ihre Fabriken" nicht zu boykottieren.
Im zweiten Teil wechseln die Tänzer die Kostüme und werden von einer Art Trainingsmeister auf Herz und Nieren geprüft. Jeden Schritt kontrolliert er, verlangt rasante Drehungen ohne Ende, Konzentration, ein strahlendes Lächeln im Gesicht. Wer vor seinen Augen nicht besteht, verliert seinen Job an jüngere Kollegen oder an solche, die für noch weniger Geld noch mehr arbeiten, noch mehr lächeln. Helena Waldmann stellt den Kunstbetrieb an den Pranger und dokumentiert, was selten ausgesprochen wird: Die scheinbar heile Welt der Bühne ist mit gnadenloser Selbstausbeutung verbunden.
"Noch besser optimieren" ist Teil drei überschrieben: Die Tänzer stehen am Bühnenrand und messen ihren Puls. Der ist rasend hoch, wie entsprechende Frequenzen auf der Leinwand im Hintergrund zeigen. Und dort sieht man ganz am Schluss ein Bild, auf dem ein menschliches Wesen an einer Nähmaschine entsteht.
Sabine Wagner, Ostthüringer Zeitung 22.12.2014
TANZEN GEGEN AUSBEUTUNG
Das Stück verbindet politische Aussage und Tanz zu einem Powerpaket, das keinen kaltlassen kann.
Lilo Weber, Neue Zürcher Zeitung, 13.12.2014
HIER BEWEGEN SICH TÄNZER WIE RATTERNDE NÄHNADELN
Niemand im Zuschauerraum kann diesen Videos ausweichen. Sie zeigen Näher in einer Textilfabrik in Bangladesh. Eine dieser Fabriken erlangte 2013 traurige Berühmtheit: Ihr Einsturz hatte unzählige Tote und Verletzte zur Folge.
Damals war die deutsche Choreografin Helena Waldmann bereits intensiv daran, ein Stück auf die Beine zu stellen, das die ausbeuterischen Zustände in den Textilfabriken thematisiert. „Made in Bangladesh“ heisst die von ihr und ihrem Co-Choreografen Vikram Iyengar erarbeitete Produktion mit 12 einheimischen Tänzerinnen und Tänzern. Damit klingt im Titel an, was in spottbilligen Kleidern als Etikett eingenäht ist.
Der flammende Zorn über die unhaltbaren Zustände in den fernen Fabriken mag noch so gross sein – auf der Bühne muss er unter die Haut gehen. Dass er das tut, verdankt sich Waldmanns Zugriff auf den bengalischen Tanz Kathak, der durch seine rasante, perkussive Fussarbeit an die ratternden Nähnadeln erinnert. Gesteigert wird das Aufklatschen nackter Füsse von dem wie ein Staccato-Gewitter gesprochenem Tike-Tike-Tak-Tak des Ensembles und von Hans Narvas metallisch-grollendem Sound. Unbequem: Zu Beginn sausen riesige Nähnadeln auf den Videos rauf und runter – und wie die Nadeln bewegen sich auch die Tänzer in der Vertikale.Der repetitive Charakter äussert sich in weiteren Bewegungen, aber: „We are happy.“ Eine der Tänzerinnen hat zum Mikrofon gegriffen. Dann: ein Knall. Videos von der eingestürzten Fabrik; Sirenengeheul, Stimmengewirr, Schreie. Jedoch aller Leiden zum Trotz: „Bitte boykottiert uns nicht“ – so zu lesen auf der Videoleinwand.
Waldmanns Aufforderung an den Westen ist unmissverständlich: Boykottiert Bangladesh nicht, aber tragt dazu bei, die Arbeitsumstände der Näher zu verändern. Ebenso wie jene der Tänzer, die in Bangladesh wie im Westen ausgebeutet werden. Waldmanns Brückenschlag ist diesbezüglich raffiniert. Jäh wechselt der Schauplatz auf der Bühne von der Textilfabrik in den Tanzsaal – und damit zu beinharter Konkurrenz und Drill. Was bleibt: Eine Aufführung, deren ästhetischer Furor im Dienste einer aufrüttelnden Botschaft steht.
Elisabeth Feller, Aargauer Zeitung 12.12.2014
RATLOS ABER BEWEGT
Takatakatak, ein rhythmisches Stampfen im Takt der Nähnadeln, ein unermüdliches auf und ab, takatak. Wer das Pensum nicht schafft, hat keine Mittagspause. Fußarbeit und immer dieselben Handbewegungen, im Rhythmus, im Gleichklang, schneller, schneller, um noch mehr Kleider zu produzieren. Takatakatak. Immer wieder, der Lärm wird stärker, sich drehen, schneller, 100 Kleidungsstücke pro Stunde, zehn Stunden am Tag, sechs Tage die Woche, takatakatak.
An manchen Stellen ist die unerbittliche Performance „Made in Bangladesh“ von Helena Waldmann so anstrengend und redundant wie ein Tag in einer dieser Kleiderfabriken in Bangla- desh, um die es geht. An die Rückwand der Bühne im Tollhaus, wo das knapp 70-minütige Stück aufgeführt wurde, werden Zahlen, Sätze und Bilder projiziert, die aufrütteln und weh tun – am meisten sicher das Bild von zwei Toten aus der eingestürzten Fabrik des Rana- Plaza Gebäudes.
Zwölf Tänzer aus Bangladesh hat Waldmann vor Ort engagiert und mit ihnen über ein Jahr dieses Tanztheaterstück erarbeitet. „Mir war von Anfang an klar, dass ich den Kathak, die vor- herrschende Tanzrichtung in Bangladesh, mit einbinde. Allerdings habe ich das auf einen sehr technischen Kathak reduziert, habe alles Poetische weggelassen und auch auf Fußglöckchen ver- zichtet. Es bleibt ein vertikales, starkes Stampfen, das viel Druck erzeugt, damit kann ich die physischen Arbeitsbedingungen dort darstellen“, erklärt Waldmann im anschließenden Ge- spräch. „Ich will die Zuschauer provozieren, natürlich tut es weh“, ergänzt sie. Gefragt, welche Lösung sie anbiete, zumal der Satz eingeblendet wird: „Boykottiert unsere Produkte nicht“, antwortet Waldmann: „Jeder muss selbst entscheiden, wie er auf Ausbeutung reagiert, ich bin Künstlerin und keine Ratgeberin. Ich bin nach Bangladesh gefahren, um einen Schuldigen zu finden, aber den einen Schuldigen gibt es nicht. Viele Frauen sind glücklich, dass sie in den Nähereien arbeiten dürfen, es ist besser als auf dem Land, wo sie mit 14 Jahren zwangsverheiratet wurden.“
In der zweiten Hälfte des Stücks, an dessen Entstehung das Tollhaus als Koproduzent beteiligt war, überträgt Helena Waldmann die schlechten Bedingungen der Näherinnen auf den Kunst- betrieb, insbesondere auf Tänzer, und führt das Stampfen erneut vor – nur dieses Mal gespiegelt auf der anderen Seite der Bühne und mit anderen Kostümen. Tänzer müssen hart körperlich trainieren, immer besser werden und verdienen teilweise weniger als die Kassierer. Aber, so fragt jemand aus dem interessierten Publikum, das sich rege an dem sich anschließenden Gespräch beteiligt, könne man denn die Situation der Tänzer mit derjenigen der Näherinnen vergleichen? Eine der Tänzerinnen erzählt, dass sie in Bangladesh teilweise schlechtere Konditionen haben als die Näherinnen, da sie immer nur Zeitverträge bekommen und keinerlei Sicherheiten haben. Doch sie sind jung und hoffnungsvoll, ihr Land auf ihre eigene Weise verändern zu können.
„Die Situation auf deutschen Bühnen ist schlimm für Schauspieler und Tänzer“, weiß Waldmann aus Erfahrung und vielen Gesprächen. Ob Näherin oder Tänzer – beide arbeiteten sehr hart und sehr lange und sollten dafür anständig bezahlt werden. Der Konsument muss sich dessen bewusst sein. Ein Zuschauer resümierte das so: „Frau Waldmann, Sie lassen uns ratlos, aber bewegt zurück, wir spüren die Ausbeutung.“
Ute Baumeister, Badische Neueste Nachrichten 5.12.2014
BEWEGUNGS-STÜCKZAHLEN
Neun Tänzerinnen und drei Tänzer des traditionellen Kathak hat Waldmann für „Made in Bangladesh“ engagiert. Vikram Iyengar ist Co-Choreograph dieses in Ludwigshafen uraufgeführten Abends, der trotz farbenfroher Gewänder (Kostüme: Hanif Kaiser, Judith Adam) jede Anmutung von Folklore zugunsten von Minimalismus und Härte vermeidet – sowohl, was die Bewegungssprache betrifft als auch die präzise gesetzten, knappen Aussagen wie „Don’t boycott our products“, boykottiert unsere Produkte nicht.
Wie der Stepp ist der Kathak ein Tanz, bei dem die Tänzer auch für Percussion sorgen; im indischen Kathak sind sie jedoch barfuß, tragen oft reizend klimpernde Glöckchen um die Fesseln (hier nicht, auch das trägt zur Ent-Folklorisierung bei). Es gibt intrikate Armbewegungen, Pirouetten, Sprünge, doch werden auch sie von Waldmann/Iyengar sparsam eingesetzt. Vielmehr geht es um das schneller und schneller Getaktete, um eine Annäherung des Tanzes an Fließband-Arbeitsabläufe. In Reihenformationen müssen die zwölf Tänzer gegeneinander antreten, als ginge es um Bewegungs-Stückzahlen. Das ist eindrucksvoll und auf nachdrückliche Weise ernüchternd, geradezu spröde. Ein Lächeln wird nur angeknipst, wenn der Vorarbeiter/Choreograph es verlangt.
Optische Insistenz
Zwei Fotografien, die beim großen Unglück 2013 entstanden, werden für eine Weile riesenhaft eingeblendet: Eine Draufsicht auf den Schuttberg und, herzzerreißend, eine Frau und ein Mann, zum Teil ausgegraben, staubbedeckt. Er hat im Tod den Arm um sie gelegt. Auch da ist weniger mehr, beeindruckt das Stück durch eine optische Insistenz, für die sich Helena Waldmann Zeit nimmt.
Sylvia Staude, Frankfurter Rundschau 2.12.2014
„BOYKOTTIERT NICHT UNSERE WAREN“
Wommm! Dunkelheit! Das getanzte Stück „Made in Bangladesh“ ist zu Ende. Im Publikum bedrückte Stille. Eine Minute, zwei Minuten? Es mutet wie Ewigkeit an, bis der Applaus einsetzt. Dann feiern 300 Zuschauer im Tanzhaus NRW die Tanzgruppe aus Dhaka/Bangladesh.
Zwölf Kartak-Tänzerinnen und Tänzer haben den Alltag bangladeschischer Näherinnen umgesetzt. Der besteht aus: Akkord, Akkord, keine Zeit für eine Mittagspause. Akkord, Akkord, bis zur völligen Erschöpfung. Akkord, Akkord auch für elfjährige Näherinnen, die sechs Tage der Woche 14 Stunden lang arbeiten – für 2,50 Euro im Monat.
Farbenfrohe Kleider
Als Regisseurin Helena Waldmann in Dhaka während der Proben Näherinnen und Tänzerinnen zusammen brachte, stellte sich heraus, dass die Künstler unter noch schlechteren Arbeitsbedingungen leiden. Daher macht „Made in Bangladesh“ auch ihre Probleme deutlich. Die Stärke der Aufführung liegt darin, dass sie darauf verzichtet, eine plakative Opferrolle zu präsentieren. Statt dessen gibt sie der anonymen Menge der Näherinnen eine positive Identität, der sich der Zuschauer nicht entziehen kann. Durch die Tänzerinnen in ihren farbenfrohen Kleidern erhalten die Frauen ein Gesicht. „Boykottiert nicht unsere Waren, wir brauchen die Arbeitsplätze“, lautet ihre eindringliche Forderung.
Pamela Brozsat, NRZ 1.12.2014
STAMPFMARATHON DER AUSGEBEUTETEN
Helena Waldmann arbeitet, obgleich selbst weder Tänzerin noch Choreographin, bevorzugt mit Tänzern an einem Theater, das auch politische Inhalte nonverbal transportieren will. Ständige Begleiter der bewegten Körper sind die Videos von Anna Saup. Sie tragen, außer zu einer phantastischen Optik, auch zu den dokumentarischen Fakten des jeweiligen Sujets bei, begleitet von einer erklärenden Stimme aus dem Off. Musik und exquisite Lichtstimmungen komplementieren all das zum akustisch-visuellen Gesamtkunstwerk. Das gelingt längst nicht immer so überzeugend wie nun in Helena Waldmanns heftig akklamiertem neuesten Coup "Made in Bangladesh", uraufgeführt im Theater im Pfalzbau in Ludwigshafen.
Die Videos sprechen eine deutliche Sprache, aber die hämmernden Schritte der neun bangladeschischen Tänzerinnen und drei Tänzer sind noch eindringlicher und übertönen, was die Bilder ezählen. Die Tänzer schlängeln sich an den Maschinen der Näherinnen vorbei, um dann leibhaftig auf der Bühne an der Rampe weiter zu tanzen. Die V-förmig ausgedrehten nackten Füße von Männern und Frauen in landestypischen bunten Tuniken über Pumphosen stampfen unter gebeugten Knien den hallenden Soundtrack zum Auf und Nieder zuerst einer, dann vieler Nähmaschinen-Nadeln als Hintergrundkulisse (Co-Choreografie:Vikram Iyengar). Ihre Sohlen takten den stark rhythmischen, synkopierten Kathak, der exakt kodifiziert, Geschichten erzählt. Hier ist es die Geschichte von Ausbeutung und dem trügerischen Glück, als Ausgebeutete(r) an den Segnungen des Kapitalismus teilzuhaben. Sie wird von Waldmanns temperamentvollem Tanzensemble in freien Abweichungen vom indischen Original in einem schweißtreibenden Step- und Stampfmarathon variiert.
Im letzten Drittel von "Made in Bangladesh" sucht und findet die Regisseurin eine Parallele in der (Selbst-)Ausbeutung westlicher Kunst- und Kultursklaven, die sich der Erfahrung wegen für 0-Euro-Praktika verdingen. Das ist zwar wahr, hat aber doch einen irritierenden Beigeschmack.
Eva-Elisabeth Fischer, Süddeutsche Zeitung 28.11.2014
IM TAKT DES TEXTILEN WAHNSINNS
Ein Schnäppchen hat man gemacht! Wer freute sich nicht? Doch alles hat eben seinen Preis . . . Wohl hört man immer wieder von den Arbeitsbedingungen in Sweat-Shops und Nähfabriken, liest von den Pfennigbeträgen, die Textilarbeiter für ihre endlosen Schichten bekommen und von einstürzenden Fabriken, wo unter gesundheitsschädlichen Bedingungen geschuftet wird, damit in der Wohlstandswelt 50 statt fünf Blusen im Schrank hängen können. Doch wie setzt man sich davon persönlich ab? Eine Reportage jagt die nächste, und man weiß längst, dass die Schweinerei nicht nur für Ramschketten, sondern eben auch für Edeldesigner passiert. . .
Tanz im Rhythmus der Maschine
"Made in Bangladesh" nennt die politische Choreographin Helena Waldmann ihre neuste Arbeit. Schon mit "Letters from Tentland", "BurkaBondage" und "revolver besorgen" ließ sie im Pfalzbau Ludwigshafen immer wieder in Verhältnisse blicken, in die wir sonst keinen Einblick bekämen. Dem langjährigen Vertrauensverhältnis zum dortigen Programmleiter und international geschätzten Tanzexperten Jörg Fischer ist es zu verdanken, dass Waldmann erstmals auch eine Uraufführung im Pfalzbau zeigt, die danach in die Welt ziehen wird.
Stumm stehen sie in Reihe, zehn der zwölf Tänzerinnen und Tänzer aus Bangladesch, 80 Prozent Frauen, 20 Prozent Männer, ganz wie in der Arbeitswelt an der Nähmaschine. Auf der hinten hängenden Videowand fahren Nadeln auf und ab, immer mehr, immer schneller. Gestreckt sind ihre Oberkörper, die Füße rasen. Es sind keine Fabrikarbeiter, sondern Künstler verschiedener Compagnien, die sich dem Kathak verschrieben haben, der durch blitzschnelle Fußarbeit und rhythmische Synkopen charakteristisch für die Tanzkunst in Bangladesch überhaupt ist.
Weil Helena Waldmann und Vikram Iyengar auf die sonst üblichen Fußglöckchen bei den Tänzern verzichten, entsteht ein völlig neuer Eindruck, den die welterfahrene Tanzfrau in beeindruckende Tableaus umsetzt. Gleichförmigkeit der Arbeitsbewegungen, an Unerträglichkeit grenzende Monotonie, erhöhte Schlagzahl, Optimierung, Akkord. Im Hintergrund laufen Tabellen, der zu erbringenden Stückzahlen in Tages-, Stunden- und Minutenleistungen.
Immer wieder bricht in den rasenden Maschinen- und Verkehrslärm jäh Stille herein: etwa ein Foto von Leichen im Schutt einer zusammengestürzten Fabrik. Oder über einer plötzlich einsam auf der Bühne stehenden Tänzerin steht nachhallend "Bitte boykottieren Sie unsere Produkte nicht."
Und Waldmann spannt den Bogen an diesem beeindruckenden wie klugen Abend weiter. Neben dem textilen Weltwahnsinn gilt ihre Aufmerksamkeit auch den Alltagsbedingungen einer Branche, die selten im Fokus von Reportagen steht - der Berufswelt der Künstler selbst: Zwei Monate Probenzeit ohne Honorar, pro Show 45 Euro, wer krank oder schwanger wird, fliegt und um das im Vorjahr mit 60 Auftritten verdiente Geld zu ertanzen, muss - ganz wie in der Fabrik - heuer 100 mal getanzt werden. . . Lächeln und Optimieren. Immer schneller dreht sich das Karussell: "Wir sind stolz, Teil der kapitalistischen Weltordnung zu sein." Noch so ein Satz wie Donnerhall.
Funktionieren pro Zeiteinheit
Waldmann zieht das Tempo an, dreht die Schraube weiter. Line Manager heißt der Aufseher über in nummerierten Reihen stehende Nähmaschinen und Tanzpositionen. Entsteht an der einen ein Hemd, wird an der anderen Position die nächste kommerzielle Flamenco- oder Chorus-Line-Show geprobt. Und immer schön lächeln, "Wir haben Besucher", teilt der Manager mit. Selten reißt oder rastet einer aus: Du kannst, weil du willst, was du musst. Wenn er oder sie es aber tun, entstehen die eindringlichsten Momente des Abends. Denn die Menschen wissen, dass sie ihre Gesundheit ruinieren: "Aber ich arbeite so hart ich kann."
Tabellen über Stückzahl pro Arbeitsplatz lassen uns ebenso schaudern wie der Griff der Tänzer zum eigenen Hals - und die Umrechnung des Funktionierens in Zeit- und Geld. In 77 Minuten Aufführungsdauer hat ein Arbeiter 28 Cent, die deutsche Textilindustrie 1,4 Millionen Euro verdient, beschämendes Wissen, dem furioser Applaus folgt.
Ralf-Carl Langhals, Mannheimer Morgen 28.11.2014
IMMER MEHR, IMMER BILLIGER
Wie bringt man sechs Darstellerinnen auf der Bühne eines Landes zum Tanzen, in dem das Verbergen des Körpers für Frauen oberstes Gebot ist? Waldmann verpackte ihre iranischen Protagonistinnen in Zelte, ließ sie mit und in diesen tanzen und sprechen. Klug führte die Regisseurin damals vor, dass sich unsere Projektionen nicht immer mit den realen Begebenheiten decken. Und so stellte sie unseren Eurozentrismus genauso an den Pranger wie die Bevormundungen eines totalitären Systems.
Auch die Situation der Näher in Bangladesch hat zwei Seiten, wie ein Gespräch mit Helena Waldmann schnell zutage fördert. Sie hat für ihr Stück „Made in Bangladesh“ in den Textilfabriken vor Ort recherchiert. „Ich habe gute und schlechte Fabriken gesehen. In den guten sind die Näherinnen zwar arm, aber stolz. Sie sagen, sie seien für viele Frauen Vorbilder. Sie sind glücklich und stehen durch die Näherei nicht mehr am Rand der Gesellschaft, sondern sind im Zentrum: Es sind die Millionen nähenden Frauen, die die Wirtschaft Bangladeschs stark vorantreiben. Zudem sind sie stolz, eine gewisse Unabhängigkeit erlangt zu haben und ihre Familien unterstützen zu können.“
In den schlechten Fabriken, erzählt Helena Waldmann, seien die Leute „todmüde, krank, missbraucht, beschimpft, manchmal geschlagen und rechtlos“. Kritik an ihrer Situation ist für Textilarbeiter jedoch tabu, da sie fürchten, die Industrie könne in Länder abwandern, die noch billiger produzieren. „Die Näherinnen sagten zu mir: Bitte boykottiert unsere Produkte nicht. Wir wollen und brauchen diese Arbeit dringend.“
Soll man das Kleid „Made in Bangladesh“ also doch kaufen? Helena Waldmann rät dem Verbraucher, seine Macht und seinen Kopf zu benutzen: „Wir müssen mehr darauf achten, was wir überhaupt brauchen. Nicht in Masse, sondern ausgesucht einkaufen! Das heißt auch, dass man darauf schaut, unter welchen Umständen ein Kleidungsstück hergestellt wurde. Will ich auf Kosten anderer gut aussehen oder etwas mit guten Gewissen tragen können?“
Doch lässt sich das im Laden so leicht feststellen? Ausreden lässt Helena Waldmann nicht gelten. „Die lange Kette der Beteiligten macht es leicht, die Schuld immer auf andere zu schieben. Aber das ist nicht der richtige Weg. Wir müssen uns fragen: Kann es sein, dass ein T-Shirt 1,50 Euro kostet? Nein? Dann muss ich als Verbraucher durch meine Kaufentscheidung Verantwortung übernehmen.“
Bei ihrer Recherche in Bangladesch erlebte Helena Waldmann, dass Einblick in die Textilfabriken gar nicht so leicht ist. „Viele Besitzer ließen uns nicht rein. Oder wenn doch, dann nur nach der lauten Warnung: Achtung, Käufer kommen! Danach haben sich alle anders verhalten und im Waschraum lagen Seife und Handtücher.“
Gesehen hat sie extremen Druck, aufseiten der Näher, der Fabrikbesitzer und der Käufer. „Es geht um nichts anderes als: immer mehr, immer schneller, immer billiger. Wenn die Nähmaschinen nicht im vorgegebenen Takt surren, ist der Akkord in Gefahr“, hat Helena Waldmann beobachtet. „Große Tafeln zeigen den stündlichen Output einer Nähreihe und heizen die Konkurrenz an.“
Die meisten Näher wohnen in Slums. „Viele sagen: Durch die Katastrophen ist der Druck auf die Hersteller gewachsen, es gibt mehr Kontrollen und auch Fortschritte, aber es reicht nicht, wenn nur die Situation in den Fabriken besser wird, auch die Löhne müssen steigen, damit wir nicht weiter unter dem Existenzminimum leben müssen.“
Derzeit arbeitet Helena Waldmann daran, ihre Recherchen zum Thema Ausbeutung in Tanz umzusetzen. 13 Kathak-Tänzer hat sie dafür in Dhaka gefunden. Dieser indische Tanzstil, erklärt sie, wolle steife Tänzer. „Der Tanz spielt sich in den Füßen ab. Das rhythmische Stampfen erinnert an das Rattern der Nähmaschinen. Die Füße der Tänzer sind wie die Nadeln, die den Stoff stechen.“ Mit Hilfe von Projektionen sollen sich Tanz und Nähen überlagern. Gespräche mit Nähern, die die Tänzer im Proberaum besuchten, fließen in die Arbeit mit ein.
Den Druck, der auf den Nähern in Bangladesch ruht, kennt Helena Waldmann zu gut. „Optimierung, Effizienz: Dasselbe findet in Deutschland bei Tänzern statt. Sie sollen immer mehr und immer billiger arbeiten, weil es an Wertschätzung fehlt und für Tanzproduktionen immer weniger Geld zur Verfügung steht. Die einen nähen, die anderen tanzen bis zur Erschöpfung.“ Auch davon will ihr Stück erzählen, Parallelen zwischen Tänzern und Nähern gibt es für sie genügend: „In beiden Fällen ist die Ausbeutung maximal. Und wer den Mund aufmacht und sich beschwert, ist seinen Job los.“
So wie der Verbraucher das unfair produzierte T-Shirt boykottieren kann, möchte ihm Helena Waldmann mehr Aufmerksamkeit beim Theaterbesuch zumuten: „Das Publikum muss endlich wahrhaben, unter welchen Bedingungen Kunst entsteht. Zum Glück gibt es immer mehr Bühnenkünstler, die den Mund aufmachen.“ Tanzschaffenden rät sie, bei einer Kürzung der Zuschüsse nicht einfach wie gehabt weiterzuarbeiten. „Dann muss ich so lange Mittel beantragen, bis ich eine Produktion mit gutem Gewissen realisieren kann. Oder es gibt eben nur die Hälfte vom Stück.“ Dank Mitteln der Bundeskulturstiftung konnte Helena Waldmann „Made in Bangladesh“ fair produzieren.
Andrea Kachelriess, Stuttgarter Nachrichten, 28.11.2014
MADE IN BANGLADESH URAUFGEFÜHRT
Genau diesem Sachverhalt widmet die Choreografin, die eigentlich aus dem Regiefach kommt, ihr Stück. Zwölf Tänzer aus Dhaka führen das Prinzip der nach oben offenen Steigerung von Tempo und Effizienz mit dem eigenen Körper vor: rhythmische Fußarbeit gesteigert durch abgezirkelte Arm- und Kopfbewegungen und ein Stakkato sich überlagernder Stimmen.
Nach 35 Minuten war das Stück beinahe vorbei und das künstlerische Dilemma offensichtlich: Gerade das Prinzip der sich unablässig steigernden repetitiven Bewegungsmuster ist bestens dafür geeignet, das Publikum in einen Begeisterungstaumel zu versetzen (und wird von Choreografen weltweit intensiv genutzt). So gerät auch hier die künstlerische Selbstausbeutung der Darsteller zum genüsslich goutierbaren ästhetischen Ereignis.
Genau darum lässt Helena Waldmann das Experiment zur Bewegungsoptimierung ein zweites Mal anheben: Dieses Mal sind die Tänzer statt in bunte Landestracht in smarten europäischen Design-Lagenlook (Hanif Kaiser/Judith Adam) gekleidet, aber das Bewegungsvokabular bleibt gleich. Als Markt, der unablässige Effizienzsteigerung erfordert, wird nun der Kulturbetrieb kenntlich gemacht. Auch hier, so Helena Waldmanns Credo, sind die Ansprüche des Marktes und die Ausbeutung der Darsteller perfekt verzahnt. Tänzer arbeiten oft für einen Hungerlohn, ohne soziale Absicherung und mit der beständigen Herausforderung, immer mehr aus dem eigenen Körper herauszuholen.
Höchstleistungen
Freilich greift diese Analogie ein entscheidendes Stückchen zu kurz: Während das Motto „We are happy“ über der Textilfabrik perfekten Zynismus beweist, sind die Tänzer aus Bangladesch tatsächlich sichtbar glücklich darüber, ihre Kunst unter professionellen Bedingungen darbieten zu können. Um sie zu Höchstleistungen anzufeuern, braucht es keinen Einpeitscher…
Isabelle von Neumann-Cosel, Allgemeine Zeitung Rhein Main Presse, 28.11.2014
STOLZ IN DER NOT
Zwölf Kathak-Tänzer hat die Choreografin und Regisseurin in Bangladesch gecastet. Sie führenin bunter Tracht nicht nur den landestypischen Tanz mit fliegender Fußarbeit vor, sie strahlen auch Freude und Stolz aus. Da stehen keine Opfer-Darsteller auf der Bühne, die Tänzer verstehen sich offensichtlich auch als freudvolle Botschafter aus Bangladesch. Sie sitzen zwar am hintersten Ende der globalen Werkbank, aber sie gehören eben dazu. Und vor allem sind es zu 80 Prozent Frauen, die in der wichtigsten Industrie des Landes arbeiten. Darf man sie bedauern? Wird da Mitleid nicht schnell zur Arroganz? Das muss jeder für sich beantworten.
Die Choreografie jedenfalls lässt die Tänzer ihren Asia-Step im Takt der Maschinen vollführen: monoton, mechanisch und immer schneller. Bis zur Erschöpfung, bis zur Verzweiflung. DieFüße fliegen,„Tikitakatikitaka“ wispert die Gruppe. Auf der Videowand erscheinen Herzfrequenz-Zacken und gigantische Nähnadeln, die hoch- und runtersausen. Die Bewegungen der Maschinen fahren den Menschen in die Glieder. Mit schönem Gruß vom Kapitalismus- Clown Charlie Chaplin in „Modern Times“.
„Beste Qualität, ganz schnell und noch billiger als letzte Woche“, fordert eine Stimme aus dem Off. Dazu flimmern Zahlen- kolonnen,zeigen,wieviel ein Arbeiter während der Aufführung verdient hätte (91 Cent) und wie viel die Textilindustrie in der Zeit erwirtschaftet (1,4 Millio- nen Euro). Bisweilen müssen die Tänzer wie Schachfiguren auf dem Spielfeld ihre Position wechseln. Wenn Besuch kommt, lächeln und winken sie. Und dann ist da dieses grausig friedliche Foto eines Mannes und einer Frau: innig umschlungen zwischen Schutt und Armierungseisen, gestorben im Rana Plaza. Das ist verstörend, die Tanzarbeit aber geht immer weiter.
Helena Waldmann muss gar nicht agitieren, die Systemkritik ergibt sich von selbst und spiegelt sich dabei in den Mechanismen der Kunstszene, die ja auch auf Selbstausbeutung und Selbstoptimierung fußt. Im zweiten Teil des Abends wiederholen sich Szenen,nun aber mit Blick auf Hungerkünstler, die weniger als die Kassenfrau verdienen, oder drei Jahre als Praktikanten engagiert sind. Immerhin sind die Arbeitsplätze im Theater nicht lebensgefährlich.
Aber sowohl Näherinnen als auch Künstler wissen offenbar nicht, wie man sich besser verkauft. Im klassischen Lehrstück wäre das der Moment, in dem der Aufklärer auftritt und von der Gewerkschaft erzählt. Waldmann verzichtet auf Belehrung. Am Ende ist man bei ihr nicht schlauer, aber nachdenklicher.
Stefan Benz, Darmstädter Echo, 28.11.2014
IMMER MEHR, IMMER BILLIGER
Wie gehen wir mit menschlichen Ressourcen um? Die Tanzregisseurin Helena Waldmann hat sich für ihre neue Produktion in den Textilfabriken von Bangladesch umgeschaut.
Schönes Kleid. Leider steht „Made in Bangladesh“ auf dem Etikett. Darf man das noch kaufen? Nach mehreren Katastrophen ist die Situation der Näher dort hinreichend bekannt. Sie arbeiten in überfüllten, unsicheren Gebäuden, sie nähen im Akkord und verdienen am Ende so wenig, dass es fürs Nötigste kaum reicht.
Mehr als 1100 Textilarbeiter starben vor einem Jahr, als in einem Vorort von Bangladeschs Hauptstadt Dhaka ein Fabrikgebäude einstürzte. Aber es sind nicht allein Meldungen wie diese, die das Interesse der Regisseurin Helena Waldmann an den Nähereien geweckt haben. „Made in Bangladesh“ heißt ihr neues Stück, das nach der Premiere in Dhaka im Herbst nach Ludwigshafen kommt. Es will hinter die Kulissen der Ausbeutung blicken, um ihre Mechanismen besser zu verstehen. Denn Ausbeutung ist, wie Helena Waldmann weiß, auch auf deutschen Tanzbühnen kein Fremdwort.
Wer Helena Waldmanns Arbeiten kennt, kann sich gut vorstellen, dass dieses Thema bei ihr gut aufgehoben ist. Wenige Choreografen zeigen wie sie, dass Tanz politisch sein kann, ohne ästhetische Prinzipien aufzugeben. Am Nerv der Zeit liegen ihre Themen allemal, vor zehn Jahren traf sie mit „Letters from Tentland“, einem in Teheran erarbeiteten Stück zum Verschleierungsgebot des Islam, ins Schwarze. Wie bringt man sechs Darstellerinnen auf der Bühne eines Landes zum Tanzen, in dem das Verbergen des Körpers für Frauen oberstes Gebot ist? Waldmann verpackte ihre iranischen Protagonistinnen in Zelte, ließ sie mit und in diesen tanzen und sprechen. Klug führte die Regisseurin damals vor, dass sich unsere Projektionen nicht immer mit den realen Begebenheiten decken. Und so stellte sie unseren Eurozentrismus genauso an den Pranger wie die Bevormundungen eines totalitären Systems.
Auch die Situation der Näher in Bangladesch hat zwei Seiten, wie ein Gespräch mit Helena Waldmann schnell zutage fördert. Sie hat für ihr Stück „Made in Bangladesh“ in den Textilfabriken vor Ort recherchiert. „Ich habe gute und schlechte Fabriken gesehen. In den guten sind die Näherinnen zwar arm, aber stolz. Sie sagen, sie seien für viele Frauen Vorbilder. Sie sind glücklich und ste- hen durch die Näherei nicht mehr am Rand der Gesellschaft, sondern sind im Zentrum: Es sind die Millionen nähenden Frauen, die die Wirtschaft Bangladeschs stark vorantreiben. Zudem sind sie stolz, eine gewisse Unabhängigkeit erlangt zu haben und ihre Familien unterstützen zu können.“
In den schlechten Fabriken, erzählt Helena Waldmann, seien die Leute „todmüde, krank, missbraucht, beschimpft, manchmal geschlagen und rechtlos“. Kritik an ihrer Situation ist für Textilarbeiter jedoch tabu, da sie fürchten, die Industrie könne in Länder abwandern, die noch billiger produzieren. „Die Näherinnen sagten zu mir: Bitte boykottiert unsere Produkte nicht. Wir wollen und brauchen diese Arbeit dringend.“
Soll man das Kleid „Made in Bangladesh“ also doch kaufen? Helena Waldmann rät dem Verbraucher, seine Macht und seinen Kopf zu benutzen: „Wir müssen mehr darauf achten, was wir überhaupt brauchen. Nicht in Masse, sondern ausgesucht einkaufen! Das heißt auch, dass man darauf schaut, unter welchen Umständen ein Kleidungsstück hergestellt wurde. Will ich auf Kosten anderer gut aussehen oder etwas mit guten Gewissen tragen können?“
Doch lässt sich das im Laden so leicht feststellen? Ausreden lässt Helena Wald- mann nicht gelten. „Die lange Kette der Beteiligten macht es leicht, die Schuld immer auf andere zu schieben. Aber das ist nicht der richtige Weg. Wir müssen uns fragen: Kann es sein, dass ein T-Shirt 1,50 Euro kostet? Nein? Dann muss ich als Verbraucher durch meine Kaufentscheidung Verantwortung übernehmen.“
Bei ihrer Recherche in Bangladesch erlebte Helena Waldmann, dass Einblick in die Textilfabriken gar nicht so leicht ist. „Viele Besitzer ließen uns nicht rein. Oder wenn doch, dann nur nach der lauten Warnung: Achtung, Käufer kommen! Danach haben sich alle anders verhalten und im Waschraum lagen Seife und Handtücher.“
Gesehen hat sie extremen Druck, aufseiten der Näher, der Fabrikbesitzer und der Käufer. „Es geht um nichts anderes als: immer mehr, immer schneller, immer billiger. Wenn die Nähmaschinen nicht im vorgegebenen Takt surren, ist der Akkord in Gefahr“, hat Helena Waldmann beobachtet. „Große Tafeln zeigen den stündlichen Output einer Nähreihe und heizen die Konkurrenz an.“
Die meisten Näher wohnen in Slums. „Viele sagen: Durch die Katastrophen ist der Druck auf die Hersteller gewachsen, es gibt mehr Kontrollen und auch Fortschritte, aber es reicht nicht, wenn nur die Situation in den Fabriken besser wird, auch die Löhne müssen steigen, damit wir nicht weiter unter dem Existenzminimum leben müssen.“
Derzeit arbeitet Helena Waldmann daran, ihre Recherchen zum Thema Ausbeutung in Tanz umzusetzen. 13 Kathak-Tänzer hat sie dafür in Dhaka gefunden. Dieser indische Tanzstil, erklärt sie, wolle steife Tänzer. „Der Tanz spielt sich in den Füßen ab. Das rhythmische Stampfen erinnert an das Rattern der Nähmaschinen. Die Füße der Tänzer sind wie die Nadeln, die den Stoff ste- chen.“ Mit Hilfe von Projektionen sollen sich Tanz und Nähen überlagern. Gespräche mit Nähern, die die Tänzer im Proberaum besuchten, fließen in die Arbeit mit ein.
Den Druck, der auf den Nähern in Bangladesch ruht, kennt Helena Waldmann zu gut. „Optimierung, Effizienz: Dasselbe findet in Deutschland bei Tänzern statt. Sie sollen immer mehr und immer billiger arbeiten, weil es an Wertschätzung fehlt und für Tanzproduktionen immer weniger Geld zur Ver- fügung steht. Die einen nähen, die anderen tanzen bis zur Erschöpfung.“ Auch davon will ihr Stück erzählen, Parallelen zwischen Tänzern und Nähern gibt es für sie genügend: „In beiden Fällen ist die Ausbeutung maximal. Und wer den Mund aufmacht und sich beschwert, ist seinen Job los.“
So wie der Verbraucher das unfair produzierte T-Shirt boykottieren kann, möchte ihm Helena Waldmann mehr Aufmerksamkeit beim Theaterbesuch zumuten: „Das Publikum muss endlich wahrhaben, unter welchen Bedingungen Kunst entsteht. Zum Glück gibt es immer mehr Bühnenkünstler, die den Mund aufmachen.“ Tanzschaffenden rät sie, bei einer Kürzung der Zuschüsse nicht einfach wie gehabt weiterzuarbeiten. „Dann muss ich so lange Mittel beantragen, bis ich eine Produktion mit gutem Gewissen realisieren kann. Oder es gibt eben nur die Hälfte vom Stück.“ Dank Mitteln der Bundeskulturstiftung konnte Helena Waldmann „Made in Bangladesh“ fair produzieren.
Andrea Kachelriess, Stuttgarter Nachrichten, 10.5.2014