HELENA WALDMANN
PRESS CLIPPINGS
HEILIGER KRIEG UND HEILIGES GASTRECHT
Helena Waldmann bittet ihre Gäste zu einem «Gelage für Langschweine»
Das beste an «Moulin Rouge», dem Film, ist die Tragödie, wie aus einem lebenstollen Club ein dröges Theater wird, aus einem funkelnden Tanzpalast ein eng bestuhltes Parkett. In «Moulin Rouge» dürfen die Gäste zu Anfang noch ihre Meinung äußern und selber tanzen. Zum Schluss des Films sitzen sie säuberlich aufgereiht in der Verdammnis, um aufzumerken und still zu sein.
Was ist aus unserem Theater geworden? Vor uns auf der Kanzel sehen wir ein Ensemble so geschlossen wie die katholische Bischofskonferenz. Hinter uns steht ein Apparat von Türschließern, die jedem Knast zur Ehre gereichen. Die Berliner Regisseurin Helena Waldmann hat sich immer schon lieber für die Alternativen interessiert. Mal lag ihr Publikum in Betten, mal fuhr es auf Drehbühnen lustig Karussel. Zuletzt in «see and be scene» im Haus der Deutschen Wirtschaft und im Podewil saßen ihre Gäste an einem Laufsteg und genossen eine Teezeremonie zu Schlagzeug und rasend werdenden Models.
Jetzt geht Helena Waldmann zurück an die Anfänge des Theaters: als es noch ein Vergnügen war. Sie geht zurück zur Antike, zum Gelage, wie es Platon und Xenophon überlieferten - ein Theater, das niemandem den Mund verbot und im Namen der Freundschaft immer zuerst um das Wohl der Gäste bedacht war. Man aß, trank, und genoss die Schauspieler und Tänzer, die den alten Quellen zufolge keine Späßchen veranstalteten, sondern illustrierten und darstellten, was die versammelten Gäste diskutierten. Ein Symposion nannte man das - keine Expertenkonferenz in kalten Kongress-Centern, sondern ein Herrenclub, der im Liegen die Weltlage durch das Auge der Darsteller betrachtete.
Die Weltlage: Würde Odysseus, der Urgrieche, heute leben, er hätte so wenig Chancen, seine Heimat zu erreichen, wie einst auch. Die Götter, die sein Schicksal lenkten, sind heute Demokraten, die ihn allein für seine Morde auf Ithaka vor den Haager Gerichtshof stellen würden. Odysseus, ohne Pass und Visum, wäre ein «sans papiers», ein Heimatloser, der sein Leben in Asylantencontainern fristen müsste, nicht auf der Insel Aias, auf der ihn einst die Halbgöttin Circe nach allen Regeln der Gastfreundschaft bewirtete.
Das heilige Gastrecht war vor allem deshalb heilig, weil ein Mensch, der sich auf der Flucht befindet, oder sich nur einfach von A nach B bewegte, tausenderlei Fährnissen unterworfen ist: eine Pauschal-Odyssee gab es damals so wenig wie heute eine Flucht aus kriegsbedrohten Gebieten mit Vorabend-Check-In und klimatisierten Reisebussen.
Helena Waldmanns «Gelage für Langschweine» ist genauso geschlossen wie die europäischen Grenzen. Nur mit Hilfe von Schleppern gelangt man in sein Inneres, dorthin, wo die Regeln der heiligen Gastfreundschaft noch intakt sind und ein antikes Symposion in seiner ganzen alten Pracht wiederaufersteht, wo Essen und Trinken kein Pausenbuffet darstellen, sondern ein wesentlicher Teil des Theatergenusses sind. Verhandelt wird das Gastrecht selbst, ein Recht, das den Mundraub noch ebenso erlaubt wie es die Frage der Inneren Sicherheit niemals über das Gastrecht stellen darf. Der Fremde sei zu behandeln wie der eigene Bruder, folglich wird das Publikum von den Köchen des Berliner «labors für angewANDte ALLtagsliebe» bewirtet wie die besten Freunde.
Der Wermutstropfen (hier: aus dargereichtem Absynth) ist der Konflikt zwischen der verführerischen Halbgöttin Circe (Elke Czischek) und Odysseus (Adnan Maral). Sie mischen Wollust und Begehren mit Gastrecht und politischer Kultur. Der Grat zwischen Gelage und Schlachthaus, zwischen Gastfreundschaft und Krieg ist schmal. Wie auch sonst könnte der Djihat in jenem Teil der Welt ausgerufen werden, der noch heute das Gastrecht höher stellt als den rechten Glauben?
Berliner Zeitung 26.10.2001