CENTRO COREOGRAFICO NAZIONALE / ATERBALLETTO
PRESSESTIMMEN
ARCHAISCH-ELEGANTE BEWEGUNGSLUST
Das italienische Aterballetto mit einer Uraufführung von „Le Sacre“ zu Strawinskys Musik in Baden-Baden
Die traumwandlerische Choreografie „Come un respiro“ zu Händels zarten Suiten, in der Mauro Bigonzettis Vorliebe für die Schönheit von verzierten Körperskulpturen und fließende Bewegungen vorgeführt wird, ist Auftakt gewesen für das erste Gastspiel von Aterballetto im Festspielhaus Baden-Baden – der bedeutendsten Compagnie für zeitgenössischen Tanz in Italien.
Bewegung um Bewegung fächert der gebürtige Römer Bigonzetti in seinem 2009 entstandenen Werk auf. Der Tänzerkörper wird bei ihm zur fein modelierten Silhouette, in der die gespreizten Finger wie florale antikisierende Vasenmalereien anmuten, die Tänzer sind Kraftpakete mit gebeugten Knie, eckigen Armen, durchgespannt, von hoher Emotionalität, die in detailreichen Soli, Pas de deux und Gruppensequenzen sinnliche Bilder schaffen. Das mit atemberaubender Vitalität und Leichtigkeit tanzende Aterballetto aus Reggio Emilia erschafft, ganz der Musik hingegeben, aus klassischem Vokabular einen modernen Ballettstil, der ebenso elegant wie dynamisch ist.
Schlichte, schwarze, eng anliegende Beinkleider tragen die Tänzer, die Tänzerinnen dazu knappe Trikos. Mit glänzenden muskulösen Bodys suggeriert Aterballetto im weichen Lichtkegel der ansonsten leeren Bühne in „Come un respiro“ meditative Selbstvergessenheit. In witzigen, verspielten Variationen wird die Elegie wieder aufgelöst, bevor sie eintönig werden könnte. Tanz pur, der fesselt und überrascht.
Die eigentliche Attraktion des zweiteiligen Balletabends ist Mauro Bigonzettis Neudeutung von „Le Sacre du Printemps“ zur Musik Igor Strawinskys gewesen. Für den Choreografen von Aterballetto erfüllte sich mit dem Ballett „Le Sacre“ ein Traum, wie er im BT-Gespräch vor der Uraufführung erklärte, ein Werk, mit dem er sich seit mehr als 15 Jahren beschäftigt, das für ihn ein die Menschheit umfassendes Tanzstück werden sollte.
Strawinskys Ballettmusik „Le Sacre du Printemps“ von 1913 über das heidnische Frühlingsopfer einer Jugfrau aus dem alten Russland, das in der ersten Choreographie Nijinskys mit gereckten Fäusten, rituellem Stampfen und Springen einen Pariser Theaterskandal provozierte, lässt Bigonzetti im Frühjahr 2011 vor der aufgehenden rotgoldenen Sonne Afrikas entstehen, sozusagen an der Wiege der Menschheit.
Das Frühlingspopfer, das der Italiener zusammen mit seinen 18 Tänzern in schicker, knapper Lederkleidung und Flatterröckchen in einer modernen Ballettsprache mit archaischen Anklängen darbringt, ist aber beiliebe kein Ethno-Ballett, sondern in braun-goldenes Licht getauchtes, oftmals berührendes Bildertheater: voller Energie, indem sich Tanz und die forcierende Musik Strawinskys gegenseitig aktivieren.
Wie dürres Astwerk sieht das aus, wenn Bigonzettis Schamanin dann vor leuchtend rotem Halbkreis silhouettenhaft ihre Glieder reckt und streckt, inmitten eines Kreises von Tänzerkörpern, die unter ihr liegen und ihr Standbein fest umklammern. Bigonzetti assoziert damit auch einen Baum im Sturm des Lebenslaufs. Wie in Nijinskys „Sacre“ gibt es auch in der modernen Aterballetto-Version agressive Schreitformationen, Tänzer mit gereckten Fäusten, die einer Tänzerin entgegenmaschieren – an eine außerwählte Jungfrau, das „Opfer“ von ehedem, immerhin noch erinnernd. Expressive Armhaltungen, zunehmend heftiger werdende Gruppentänze nehmen Bezug auf primitive Religionen, aber auch auf heutige aggressive Grundmuster. In zu organischen Körpergebilden geformten Hebefiguren suggeriert Bigonzetti Formwachstum. Mit spitz angewinkelten, erhobenen Armen und über den Kopf gefalteten Händen wird Gruppenanbetung sichtbar, was auch wie Stiere vor dem Angriff wirkt.
Bigonzettis archaische Gesellschaft ist stark abstrahiert. Er benutzt Urformen und kombiniert sie mit einem ästhetisierten Ballettvokabular und minimalistischem Lichtdesign (Carlo Cerri). Viele bekannte und überraschende Elemente von Tanz und Geschichte bilden einen Assoziationsreigen, dessen Gesamtmuster sich nicht immer voll erschließt. Nichtsdestotrotz schaut alles exquisit aus und ist eine imposante Übertragung der musikalischen Expressivität in Bewegungslust, was allerdings nicht unbedingt tiefergehende Erkenntnisse über die Wehen der Menschheit an ihrem Ursprung schafft.
Christiane Lenhardt, Badisches Tagblatt 11.4.2011
DIE KUNST DER BEWEGUNG
Das italienische Aterballetto mit einer neuen Fassung von Igor Strawinskys „Sacre du Printemps“ in Baden-Baden
1913 reagierte das Publikum geschockt auf die Uraufführung des „Sacre du Printemps“. Sowohl die knallige Musik Strawinskys wie die radikal mit dem klassischen Tanz brechende Choreographie Nijinskys wirkten wie eine Urgewalt in einer Welt aus üppiger Spätromantik und hochgezüchtetem Impressionismus. Diese Wirkung lässt sich heute nicht mehr erzielen. Mauro Bigonzetti versuchte es bei der Uraufführung seiner Choreographie zum „Sacre“ im Festspielhaus Baden-Baden erst gar nicht. Der Chefchoreograph des Aterballetto aus dem italienischen Reggio Emilia ließ für seine neue Deutung des Stücks sogar den Frühling weg.
„Le Sacre“ also, „Das Opfer“, gibt sich bei Bigonzetti stilisiert archaisch – das hat seine Choreographie mit der Uraufführung von 1913 gemeinsam. Spektakulär ausgeleuchtet erscheinen die Tänzerinnen und Tänzer wie Scherenschnitte vor einem roten Hintergrund. Auch im weiteren Verlauf gliedert Carlo Cerris Lichtdesign das Stück in verschiedene einzelne Stücke. Bigonzetti arbeitet viel mit expressiver Gestik, gespreizten oder abgeklappten Händen, angewinkelten Füßen. Am effektvollsten wirkte die geradezu architektonische Anordnung der Arme und Hände, die eine Gruppe des Aterballetto zeigte. Das kann man als religiöses Ritual betrachten, ganz im Sinne von Strawinsky und Nijinsky, oder einfach als gelungenes choreographisches Element.
Die Neuschöpfung des „Sacre“ offenbarte das enorme Können und Engagement des Aterballetto. Ein kühnes, an die Grenze menschenmöglicher Balance reichendes Solo über der amorphen, am Boden liegenden Masse der Tänzer rahmte in Scherenschnittoptik das Stück. Akrobatische Hebefiguren in den Pas de deux wirkten schon allein beim Zusehen anstrengend. Archaischen Charme hatte die Szene, in der die Tänzer sich auf dem Boden sitzend in Kreisformation mit rhythmischen Klatschgeräuschen um die Solistin in der Mitte bewegten. Trotz alledem hätte man die Übertragung der „inneren Kraft des Weiblichen“, die den „anderen Menschen Energie gibt“, nicht ohne die Erwähnung im Programmheft erkannt. Bigonzettis „Sacre“ wurde jedenfalls hervorragend getanzt, ist auch reizvoll anzusehen – nur von elementarer Wucht kann nicht die Rede sein.
In dem vor zwei Jahren geschaffenen „Come un respiro“ zu ausgewählten Stücken aus Georg Friedrich Händels „Suites de pièces pour clavecin“ musste sich Mauro Bigonzetti nicht an großen Vorbildern abarbeiten. Die unbeschwert verspielte Reihe kurzer Choreographien für Ensemble, Soli und Pas de deux zeigte Einfallsreichtum und Witz. Augenzwinkernd wurde die Konkurrenz zwischen Tänzerinnen auf die Schippe genommen. Keine der Beiden wollte hinter der anderen zurückstehen, und am Ende ihres Pas de deux schlichen die Tänzerinnen betont erschöpft von der Bühne. Mit schlangenartiger Beweglichkeit gaben zwei Tänzer ihr verschlungenes Pas de deux. Immerhin wurden sie an dessen Ende nicht von einem dritten Tänzer verknotet, wie es einem anderen Tanzpaar geschah. Bigonzettis Handschrift zeigte sich auch in „Come un respiro“ durch den völligen Verzicht auf irgendwelche Kulissen, Requisiten oder sonstige Zutaten. Bei den Auftritten des Aterballetto regiert der Tanz, nur das Licht darf noch mitspielen. Nichts lenkt ab von der Kunst der Bewegung – und die ist in Bigonzettis Choreographien spannend genug.
Nike Luber, Badische Zeitung 11.4.2011
WOHL NICHT DIE LETZTE ANMERKUNG
Mauro Bigonzettis Aterballetto mit Uraufführung im Festspielhaus Baden-Baden
Nichts ist von der brodelnden, süditalienischen Straßenszene übrig, von dem lustvoll ungezügelten Volks- und Liebestreiben, dem wilden und rüden Aktionismus, mit dem Mauro Bigonzetti in seinem Erfolgsstück „Cantata“ dem Aterballetto ein unverwechselbares Signalstück gegeben hat. Vor zwei Jahren hatten Les Grands Ballets Canadiens de Montréal bei ihrem Gastspiel im Festspielhaus zwei Arbeiten Bigonzettis im Reisegepäck, darunter auch jene aufrüttelnde und unvergleichliche „Cantata“. Jetzt kam Bigonzettis eigene Kompanie mit zwei Stücken, die eine ganz andere Handschrift zeigen: das im Händel-Jahr 2009 bei dem Movimentos-Festwochen in Wolfsburg herausgekommene Händel-Ballett „Come un respiro“ und der nun im Festspielhaus uraufgeführte „Le sacre du printemps“, bei Bigonzetti kurz „Le Sacre“. Das Aterballetto, benannt nach dem Zusammenschluß der Theater in der Emilia Romagna, gilt als Italiens prominentestes Beispiel einer sich eigenständig, außerhalb eines Opernhauses behaupteten Ballettkompanie. Seit 1983 trat Bigonzetti als Tänzer beim Aterballetto auf , dessen künstlerischer Leiter er 1997 wurde und dem er immer noch als Erster Choreograf verbunden ist, während er längst auch an zahlreichen, konventioneller Tanzkost verpflichtenten Häusern zu Gast ist.
Wie in einem einzigen Atemzug hat Bigonzetti die rund ein Dutzend stilisierten Tanzmodelle, ausgewählt aus Händels Cembalomusik in der Klaviereinspielung von Keith Jarrett, zu einem 45-minütigen Bild geformt. „Come un respiro“: ein zarter Seufzer, choreografisch in ebenso zarten Linien gezeichnet, die elegische, leicht zur Langeweile neigende Stimmung immer wieder durch Humoresken im Zaum haltend. Der Melodik Händels spürt Bigonzetti die sinnlich verknäulten Beziehungen der Tänzer nach, die sich aus der dicht verwobenen Kette der 14 Tanzakteure herausschälen und deren Körper der Choreograf in den Zweierszenen leichthändig wie Knetmasse behandelt. Purer Tanz auf schwarzer Bühne, ausgeführt in wadenlangen schwarzen Hosen, die Tänzerinnen dazu mit weißem Oberteil. Statt baroker Tanzmuster moderne Tanzakrobatik mit lasziven Beckenbewegungen der einzeln sich aus der Linie herauslösenden Tänzerinnen, eine beherzte Männergruppe mit rotierenden Armfiguren entrsprechend der satztechnischen Bravour der Musik.
Sanfte Heiterkeit löst die Tänzerin aus, die auf dem Boden sitzend erst ihre Fußspitzen reibt, bevor sie auf die Spitze geht oder die laut schnaubenden Tänzerinnen nach geleister Virtuosität. Am Ende schmiegt sich das Ensembles, das trotz der Solomomente keine solistische Starschau erlaubt, wieder zusammen.
Auch in „Le Sacre“ baut Bigonzetti auf die athletisch akrobatische und gestalterische Präsenz der Truppe, wenngleich Carlo Cerris Lichtsäulen und -Quadrate und die oftmals harten Schnitte zwischen den Sequenzen für Bigonzetti fast schon von verschwenderischer Opulenz sind. Die Frühlingsszene aus dem heidnischen Russland mit der Versammlung der Stämme und dem rituellen Opfer einer sich zu Tode tanzenden Jugfrau wird bei Bigonzetti inhaltlich nicht vertieft oder gedeutet. Die Musik, einst ein Skandal, wirkt in der von Bigonzetti genutzten Aufnahme unter Ansermet keineswegs mehr alarmierend. Zum anfänglichen hohen Fagottsolo gestaltet Bigonzetti ein Relief erdhaft verschlungener Körper, das wie aus einem indischen Tempel anmutet, mit einer sich herausschälenden Solistin, wobei sich das Bild am Ende zu entsprechender Harmonie formt. Bigonzetti vertraut auf die Muskelbeherrschung, Körperlichkeit und Ausstrahlung seiner Tänzer und bietet eine anmutige Version des 35-minütigen Zweiteilers, die vermutlich nicht seine letzte Anmerkung zu diesem Schlüsselwerk der Moderne bleiben wird. Die rivalisierenden Stämme werden allenfalls durch hackende und stampfende, keinesfalls aggresive Gruppenaktionen markiert, während ein Teil des Ensembles an den typischen motorischen Arm- und Schulterrotationen und angewinkelten Handflächen festhält.
Später ergibt sich das nette Bild der im Kreis sitzenden und solchermaßen gegen den Urzeigersinn rotierenden Truppe, eine leicht banal wirkende Gruppenübung, die wieder überstrahlt wird von der Schönheit verschmelzender Zweierfiguren.
Nikolaus Schmidt, Badische Neueste Nachrichten 11.4.2011
LOTSEN DURCH DIE KATASTROPHEN DER GEGENWART
Mauro Bigonzetti und das Aterballetto mit einer Neuinterpretation von „Le sacre du printemps“ im Festspielhaus Baden-Baden
Ein Siegeszug der 1996 in Stuttgart begann: Heute sind der Choreograf Mauro Bigonzetti und sein Aterballetto überall begehrte Gäste. Vorläufiger Höhepunkt ist eine Koproduktion mit dem Festspielhaus, am Freitag hatte in Baden-Baden seine Neuinterpretation von „Le sacre du printemps“ Premiere.
Was will ein Choreograf noch hinzufügen fast hundert Jahre nach der Uraufführung von „Le sacre du printemps“, diesem skandalumtosten Teamwork der jungen Russen Strawinsky und Nijinsky? Im Festspielhaus Baden-Baden hat am Freitag Mauro Bigonzetti eine Neuinterpretation gewagt; der Italiener, seit fast drei Jahrzehnten dem Aterballetto in Reggio Emilia verbunden, erst als Tänzer, dann als Direktor, heute als sein Chefchoreograf, steht nicht am Anfang, sondern auf dem Höhepunkt seiner Karriere – hat also auch etwas zu verlieren.
Bigonzetti weiß, dass jeder Choreograf mit „Sacre“ ein Risiko eingeht. Und dass die Wucht dieser Musik die großen Vorbilder wie ein Elektroschock wiederbelebt. Zudem ist die Version, die Bigonzetti selbst besonders schätzt, die von Pina Bausch, durch die Dokumentation von Wim Wenders derzeit sehr präsent im kollektiven Tanzgedächnis. Aber Bigonzetti ist klug genug, um diese Geschichte von „Sacre“ nicht einfach über Bord zu kippen. Und so kann er den Tanz nicht mehr wehrlos den eruptiv pulsierenden Rhythmen überlassen, die am Ende fast zwangsweise einen ihrer Protagonisten verschlingen würden. Er baut Widerstände ein, doch diese Nachdenklichkeit hat ihren Preis – sie raubt den Sog des Unausweichlichen. Am Ende gab es im Festspielhaus zwar Ahs und Ohs; aber es war nicht der Effekt zu spüren, wenn sich Spannung löst.
Einer Tänzerin, Schamanin nennt sie das Programmheft, aber vielleicht ist es schlicht ein Sinnbild des Weiblichen, ordnet sich der Rest des Ensembles unter. Bigonzetti bietet alle 18 Tänzer des Aterballetto auf, sortiert sie zu Paaren und inszeniert das Erwachen der Körpersäfte mit einer Animalität, die in dieser Zurschaustellung ihr Thema regelrecht entblößt. Als sich eine Gruppe mit insistierenden Gesten zu einem Ritual trifft, wirken die Tänzer wie Lotsen, die durch die Katastrophe unserer Gegenwart lenken. Wie können sich die vernunftbestimmten Bewohner des 21. Jahrhunderts noch auf einen Akt des Archaischen wie die Fortpflanzung einlassen? Die Geburtenrate spricht für sich; was nicht heißt, dass unsere Zeit frei von Irrationalismen ist. Einige fallen einem ein, während sich die Körper zu Ornamenten des Begehrens winden. Am Ende erhebt sich eine Tänzerin wie Phoenix aus der Menge, der blutrot ausgeleuchtete Hintergrund spiegelt sich auf ihrer Haut.
Vieles an dieser Choreografie verrät, dass das Aterballetto sonst intimere Rahmen als den in Baden-Baden bespielt. Auch das erste Stück „Como un respiro“, setzt mit kleinen Gesten, feinen Details und einer Konzentration auf Soli und Duette auf einen engen Dialog mit dem Publikum. Wie „Sacre“ ist auch dieses Ballett zu Klaviersuiten Händels als Koproduktion mit einem deutschen Veranstalter entstanden, in diesem Fall 2009 mit dem Movimentos-Festival in Wolfsburg. Überhaupt ist Bigonzetti, seit ihm 1996 mit „Kazimir´s Colours“ im Auftrag des Stuttgarter Balletts ein furioses Deutschlanddebüt gelang, ein begehrter Gast auf den Ballettbühnen von Berlin bis München. Und „Come un respiro“ zeigt ganz klar, wo seine Qualitäten liegen. Wie Nacho Duato paart er mediterane Leidenschaft mit neoklassischer Coolness. Klar und präzis konstruiert wie die Musik Händels ist der Tanz, der sich oft aus dem Stand entwickelt und die Bewegungen auf Gesten von Händen und Armen reduziert. Und selbst dann, wenn der Tanz allein der Musik zu folgen scheint, ist doch eine Erzählung im Spiel. Es geht im Dialog zweier Tänzer immer wieder um Macht und Ohnmacht, Unterwerfung und Aufbegehren, Abhängigkeiten und Befreiungen.
Wunderschöne Bilder gelingen Bigonzetti: Als atmender Organismus treten die 14 Tänzer, sich in einer Reihe an den Händen haltend, zu Beginn an. Wie ein Atemzug, so verhalten sich Tanz und Musik. Aber auch das Aufseufzen steckt im Titel: Darf Tanz noch so schön sein? Ja, wenn er wie bei Bigonzetti die richtigen Fragen stellt.
Andrea Kachelriess, Stuttgarter Nachrichten 11.4.2011
ZWISCHEN LICHT UND SCHATTEN
Sich an den Händen haltend, stehen die neun Tänzerinnen und fünf Tänzer zu Beginn in einer Reihe auf der Bühne. Noch bevor die Musik ertönt, recken sie die Arme ins Port de bras, strecken die Beine in kunstvolle Ballettposen oder isolieren dem zeitgenössischen Stil gemäß einzelne Körperteile, ohne jedoch die Verbindung zu den anderen Tänzern zu lösen. Wie eine sich zu einem geheimen Klang bewegende Linie mutet das an.
Als dann Händels „Suite de pièces pour le clavecin“ einsetzen, dargeboten in einer Bandeinspielung mit dem Jazzpianisten Keith Jarrett am Klavier, löst sich eine Tänzerin aus der Gruppe, tanzt ein Solo, eine weitere gesellt sich dazu. Ein Reigen aus Soli, Duetten und kleineren Gruppenszenen entspinnt sich, bei dem nur die Musik, der Tanz und das Licht regieren und der trotz dieser radikalen Reduktion über die Dreiviertelstunde Dauer hin in jedem Moment gefangen nimmt. Was nicht zuletzt auch der Ausdrucksstärke des fabelhaften Ensembles zu danken ist.
In seiner Choreografie „Come un respiro“, die das Aterballetto aus dem Regio Emilia bei seinem Gastspiel im Festspielhaus Baden-Baden als erstes Stück des Programms präsentiert, zeigt sich der Purist Mauro Bigonzetti ganz auf der Höhe seiner Kunst, aus dem Geist der Musik heraus und auf den bloßen Körperausdruck seiner Tänzer vertrauend wunderbare Bewegungsgbilde zu zaubern. Manchmal lässt er sogar die Musik aussetzen und man hört das Ausatmen der Darsteller, wie ein Seufzen – was das italienische Wort „respiro“ auch bedeutet –, als würde die in höchst schwierige Motionen gebannte Energie des Tanzes sich für einen Moment im befreienden Atem verströmen.
Wenn wiederrum einer der Herren in einem Duo die Hände über den Körper seiner Partnerin hüpfen lässt, weckt das eine Assoziation zum Klavierspiel, wenn Füße und Arme der Tänzer flink herausschnellen, entsteht der Eindruck, als würde die Musik durch ihre Körper gleiten. Schwungvolle Développés, filigrane Ballettschritte und -posen, akrobatische Hebungen, extreme Körperüberverdrehungen: Mauro Bigonzetti hat in diesem 2009 beim Tanzfestival Movimentos in Wolfsburg uraufgeführten Stück für seine Tanzsprache typische Stilelemente kongruent zu Händels Musik zu einem vielgestaltigen, fließenden Bewegungsduktus amalgamiert. Und dennoch reicht der Tanz über die reine Ästhetik hinaus, erzählt beispielsweise über Blicke, die Art der Gruppenkonstellationen oder in sich gekehrte individualistische Parts sehr beredt vom Menschen, vom mit sich Alleinsein wie von Beziehungen zu anderen. Leider löst hinterher die im eigentlich als Höhepunkt des Programms geplante Novität, die im Festspielhaus uraufgeführte Lesart Bigonzettis von „Le sacre du printemps“, die hohen Erwartungen nicht ein, ja enttäuscht im direkten Vergleich mit „Come un respiro“ geradezu. Zwar ist auch das von Bigonzetti nur „Sacre“ betitelte Stück zu Strawinskys aufwühlender, eruptiver Komposition ob des Einfallsreichtums bezüglich der Bewegungserfindung wieder von bestechender Ästhetik. Das Vokabular gründet hier weniger im Ballett als in archaischeren Formen wie rituellen Kreistänzen. Vor allem das Spiel der Arme und manche Körperpositionen lassen an Yoga oder indischen Tempeltanz denken. Bigonzetti hat seinen eigenen Zugang zum Schlüsselwerk der Tanzmoderne gefunden.
So gibt es bei Bigonzetti kein Opfer, sondern die Solistin reckt sich im Schlussbild fast triumphierend aud dem Kreis der am Boden liegenden übrigen sechszehn Tänzer heraus. In der Auftaktszene, die am Ende wieder aufgegriffen wird, balanciert eine hervorgehobene Tänzerin akrobatisch auf einem Bein, als würde sich ein Baum im heftigen Wind biegen. An die Urtümlichkeit der natur gemahnenden Bilder wechseln mit solchen, die das Zwischenmenschliche und die Kraft des Weiblichen in den Mittelpunkt rücken.
Interessant ist auch, dass Bigonzetti die harte Rhythmik und vorantreibende Dynamik der Musik immer wieder mit langsamen Bewegungen kontrastiert. Trotz der Vielgestaltigkeit der Bewegungsmuster wirkt die Choreografie merkwürdig gebremst im Energiefluss. Man sehnt sich förmlich nach der Dynamik im Raum, die den skulpturalen Charakter der für sich genommen zwar expressiven, aber statisch wirkenden Duette und Ensembles aufbricht. Wo die bestehende Ästhetik von „Come un respiro“ mit Tiefe zu berühren weiß, erschöpft sich Bigonzettis „Sacre“ zu oft in oberflächlicher Schönheit.
Claudia Gass, Stuttgarter Zeitung 11.4.2011